An der Grenze zum Frieden

Adrian Boylan pendelt täglich zwischen Irland und ­Nordirland. Mit der Fähre geht das schnell. Nicht nur er fürchtet, dass beim Brexit hier wieder Kontrollen eingeführt werden – und damit die Gewalt zurückkehrt

Noch grenzenlos friedlich: die Bucht von Carlingford, Blick Richtung Nordirland Foto: Clodagh Kilcoyne/reuters

Aus Greenore und Greencastle Ralf Sotscheck

Adrian Boylan hat schlechte Laune. Er ist viel umgezogen in seinem Leben, und nun muss er befürchten, dass er wegen des Brexit wieder nicht zur Ruhe kommt. Mit zwanzig hat er sein Heimatdorf in der irischen Grafschaft Wicklow südlich von Dublin verlassen und ist ins britische Liverpool gegangen. Dort nahm er einen Job im Hafen an. Das war 1994. Ein Jahr später begann der Streik der Hafenarbeiter, er dauerte 28 Monate. Boylan hielt ein halbes Jahr durch, dann ging er nach Leith, dem Hafen von Edinburgh.

Vor zehn Jahren zog es ihn zurück nach Irland. Das Land steckte in der Krise, die Mieten sanken, er fand eine kleine Wohnung im Norden der Stadt. „Dann ging es wieder aufwärts mit dem Land“, sagt Boylan, „aber vor allem mit den Mieten.“ Vorvergangenes Jahr konnte er sich Dublin nicht mehr leisten und zog nach Greenore an der Bucht von Carlingford, die im Osten der Insel die irisch-nordirischen Grenze bildet. Sein Job liegt nördlich der Grenze, im Hafen von Warrenpoint.

Es ist der zweitgrößte Hafen Nordirlands, und es ist der größte Arbeitgeber für die Kleinstadt mit 8.000 Einwohnern. „In Warrenpoint haben zwei Drittel gegen den Brexit gestimmt“, sagt Boylan. „Sie haben Angst, dass der Frieden, der seit dem Belfaster Abkommen vom Karfreitag 1998 herrscht, durch eine neue Grenze riskiert wird.“ Und die wird immer wahrscheinlicher, nachdem das Londoner Unterhaus vorige Woche den Brexit-Deal der britischen Premierministerin Theresa May abgeschmettert hat, weil die meisten Abgeordneten den irischen „Backstop“ nicht hinnehmen wollen. Der besagt, dass Nordirland in der Zollunion bleibt, sollte es keine andere Lösung geben, um eine innerirische Grenze zu verhindern.

Verlässt Großbritannien die EU am 29. März ohne ein Abkommen, entsteht zwischen Nordirland und der Republik Irland eine EU-Außengrenze. Grenzeinrichtungen, und seien es nur Überwachungskameras, könnten dazu führen, dass die Irisch-Republikanische Armee (IRA), die sich vor zwölf Jahren aufgelöst hat, wieder aufersteht. Ganz verschwunden ist sie ohnehin nicht, wie die Anschläge der Splittergruppe New IRA Anfang der Woche in Nordirlands zweitgrößter Stadt Derry zeigen, die auch Londonderry genannt wird.

„Gerade in Warrenpoint weiß man, was Krieg bedeutet“, sagt Boylan. Am 27. August 1979 verübte die IRA bei Warrenpoint einen Bombenanschlag auf einen britischen Militärkonvoi, sechs Soldaten starben. Die herbeigerufene Verstärkung verschanzte sich in einem Schuppen. Das hatte die IRA vorausgesehen und dort eine zweite Bombe deponiert, weitere zwölf Soldaten kamen ums Leben. Es war der blutigste Anschlag des gesamten Nordirlandkonflikts. Eine Gedenktafel erinnert daran. „Aber die Menschen denken viel mehr an die Zukunft“, sagt Boylan. „Mehrere Millionen Pfund sollen in den Ausbau des Hafens gepumpt werden.“

Er fährt täglich mit der Autofähre vom irischen Greenore zum nordirischen Greencastle. Von dort ist es nur ein Katzensprung nach Warrenpoint. „Ich bin wegen der Fähre nach ­Greenore gezogen“, sagt er. „Und wegen der Mietpreise. Ich will nicht schon wieder neu anfangen müssen, wenn die Grenze nach dem Brexit dicht gemacht werden sollte.“

Greenore sieht aus wie ein Museum. An den beiden Dorfstraßen stehen viktorianische Reihenhäuser und Indus­trie­hallen aus dem 19. Jahrhundert. Es ist das einzige komplett am Reißbrett geplante Dorf Irlands. Die London and North West Railway Company ließ es für die Eisenbahnarbeiter bauen, es gab eine Schule, ein Polizeirevier, eine Küstenwache, ein Strandcafé, ein Hotel und einen Golfclub. Davon ist heute nichts mehr übrig, die Eisenbahn fährt schon seit 1952 nicht mehr, und der Hafen verfiel danach. In den sechziger Jahren wurden hier höchstens noch Schiffe ausgerüstet.

Aber es gibt große Pläne in ­Greenore, hinter einem Bauzaun im Hafen stehen riesige Kräne. Schiffe bis zu 40.000 Bruttoregistertonnen können hier anlegen. „Die Doyle Group will den Hafen ausbaggern, damit noch größere Schiffe anlegen können“, sagt Paul O’Sullivan, der Geschäftsführer der Reederei. „Wir betreiben die Fähre erst seit anderthalb Jahren. Wir haben die Anlegestelle gebaut, aber das Grundstück mieten wir von Doyle.“

Die Zahl der Passagiere steige kontinuierlich, sagt er. „Im Sommer sind es natürlich hauptsächlich Touristen.“ Aber es gibt eben auch Pendler wie Boylan, die täglich zur Arbeit fahren, die Überfahrt dauert nur eine Viertelstunde. O’Sullivan glaubt, dass sich die Fähre unabhängig vom Ausgang der Brexit-Verhandlungen bezahlt machen werde. Sie verkehrt stündlich, jeden Tag außer an Weihnachten. Es gibt Platz für 44 Autos.

„Eine physische Grenze wäre ein Symbol für einen Rückschritt“

Paul O’Sullivan, Fähren-Betreiber

Um diese Jahreszeit ist nicht viel los, es sind nur fünf Autos an Bord – und zwei Motorräder. Die gehören Mark Toibin und Kevin Carolan. Beide sind Mitte 50, sie kommen aus einer Kleinstadt südlich von Dublin und sind zum ersten Mal auf der Fähre. „Wir machen einen Tagesausflug in die Mourne Mountains im Norden“, sagt Toibin. „Früher mussten wir immer um die Bucht fahren. Jetzt sparen wir fast eine Dreiviertelstunde pro Strecke.“

Während des Nordirland-Konflikts lag ein britisches Kanonenboot mitten in der Bucht. Als die Insel 1922 geteilt wurde, hatte niemand festgelegt, wo die Grenze verläuft. Seitdem gibt es Streit darum. „Meine Angestellten aus Nordirland sagen, es sei jetzt eine völlig andere Atmosphäre als vor dem Friedensabkommen“, sagt O’Sullivan. „Die Gewalt ist verschwunden, man redet und geht respektvoll miteinander um. Eine physische Grenze wäre ein Symbol für einen Rückschritt, und schlecht für die Wirtschaft wäre sie auch.“

Aber hätte eine EU-Außengrenze auch einen klitzekleinen Vorteil? Würde dadurch ein Duty-Free-Shop auf der Fähre möglich, wie es sie zwischen EU-Ländern und Drittstaaten gibt? „Darüber haben wir natürlich nachgedacht“, sagt O’Sullivan und lacht. „Wir müssten dann wegen des großen Ansturms im Fünf-Minuten-Takt fahren. Aber ich glaube, die Chancen für zollfreien Einkauf stehen schlecht.“ Den Verlust an Steuern würde weder Großbritannien noch Irland hinnehmen.

Die Fähre werde auch so ein Katalysator für die wirtschaftliche Entwicklung beiderseits der Grenze werden, glaubt er. „Wir liegen auf halber Strecke zwischen den Zentren Dublin und Belfast. In diesem Korridor leben 2,2 Millionen Menschen.“ Aber das kann nur funktionieren, wenn es nach dem Brexit keine langwierigen Kontrollen gibt, sondern die Grenze offen bleibt.

Im nordirischen Greencastle leben keine hundert Menschen, der Ort ist nach einer Burg aus dem 13. Jahrhundert benannt. Der Herrscher Hugh de Lacy ließ auf der Südseite, in Carlingford, eine zweite Burg errichten, um den Zugang zur Bucht zu überwachen. Beide Orte waren schon damals durch eine Fähre verbunden.

Der Hafen von Greencastle unterscheidet sich nicht von dem in ­Greenore – ein großer Parkplatz, ein Büro, ein paar Toiletten und ein kleiner Laden in einem gelben Container. Er ist nur im Sommer geöffnet. An einer Giebelwand an der Greencastle Pier Road steht in schwarzer Schrift auf weißem Grund: „No to the ferry.“ Anfangs seien die Bauern skeptisch gewesen, sagt Dáiva Shepcar. „Sie hatten Angst vor dem Verkehr, sie befürchteten, dass ihr Vieh nicht mehr auf die Straße dürfte.“ Klagen haben das Fährprojekt um fast zehn Jahre verzögert.

Shepcar stammt aus Litauen, sie ist Anfang 40. Vor 20 Jahren kam sie nach Dublin. Dann heiratete sie einen Engländer, Russell Shepcar, und zog mit ihm nach Greencastle. Ihm gehört eine Schiffsmaschinenbaufirma in Kilkeel, acht Kilometer nordöstlich von Greencastle. Sie arbeitet dort im Büro, hat sich aber heute frei genommen. Die beiden Söhne, 13 und 10 Jahre alt, sind noch in der Schule. Shepcar geht mit den beiden Hunden spazieren.

Sie zeigt auf eine Reihenhaussiedlung am Ende der Straße. „Dort in dem Haus mit der grünen Tür haben wir am Anfang gewohnt.“ Dann kauften sie eine Holzhütte kaum 50 Meter weiter. Sie rissen sie ab und bauten einen großen, weißen Bungalow mit Fenstern, die bis zum Boden reichen. Neulich war ihre Mutter aus Litauen zu Besuch. „Ich habe sie in Dublin vom Flughafen abgeholt“, sagt sie, „und dank der Fähre habe ich mir den Weg um die Bucht gespart.“

Niemand wisse, welche Folgen der Brexit für haben werde. „Wir wollen nicht, dass die Soldaten wieder auf den Straßen patrouillieren.“ Ihr Mann habe oft in Howth zu tun, einem Hafenstädtchen im Norden Dublins, weil es dort viele Fischkutter gibt, die in Schuss gehalten werden müssen. „Hoffentlich wird der Brexit die Wirtschaftsbeziehungen zwischen dem Vereinigten Königreich und der Republik Irland nicht gefährden“, sagt sie. Beim Referendum waren sie und ihr Mann stimmberechtigt. „Wir haben beide für den Brexit gestimmt, weil wir die britische Fischereiindustrie schützen wollten.“

Insgesamt haben die Nordiren aber deutlich für den Verbleib in der EU gestimmt. „Das muss man doch respektieren“, sagt Pendler Adrian Boylan. Er meint, dass man in England weder Ahnung von Irland habe noch sich darum schere – egal ob Nord oder Süd. „Wir gelten als die harmlosen Nachbarn, die jede Party in Schwung bringen“, sagt Boylan. „Aber jetzt, wo der Brexit wegen der irischen Grenze zu scheitern droht, sind wir plötzlich Schurken.“

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