Kommentar Urteil zum Heimunterricht: Abschottung gefährdet Kinder

Eltern wollten ihre Kinder zuhause unterrichten. Das EGMR sah deren Wohl in Gefahr. Sein Urteil bekräftigt zurecht das hohe Gut der Interaktion.

Ein kleiner Junge hat ein Buch auf den Knien, er sitzt alleine auf einer langen leeren Bank und lacht lauthals

Lernen kann man vieles alleine, Sozialkompetenz aber nicht Foto: Unsplash/ Ben White

Darf der Staat Eltern die Kinder wegnehmen, wenn diese den Nachwuchs nicht in die Schule schicken? Darf er. Die Verweigerung des Schulbesuchs stellt eine Kindeswohlgefährdung dar, entschied der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg am Donnerstag in einem aktuellen Fall.

Selbst Geldstrafen hatte die Eltern aus einem Ort in Hessen nicht davon abgehalten, ihre vier Kinder zu Hause selbst zu unterrichten. Um sich der Schulpflicht in Deutschland zu entziehen, hat die Familie sogar zeitweise im Ausland gelebt. Dummerweise wurden in dem Kinderheim, in dem die Kinder vorübergehend untergebracht waren, keine Bildungsdefizite festgestellt, ergo auch keine Kindeswohlgefährdung. Auch sonst schienen die Kinder einen umsorgten Eindruck zu machen. Trotzdem ist es richtig, dass der Staat intensiv prüft, was mit Kindern im privaten Umfeld passiert – selbst dann, wenn es mitnichten um Missbrauch, Misshandlung, Vernachlässigung geht.

Denn die eigentliche Frage, die dabei im Raum steht, ist: In welchem Geist erziehen Eltern, die ein solch immenses Misstrauen gegenüber dem Staat und dessen Bildungssystem hegen, ihre Kinder? Mit welchem Bewusstsein gegenüber der Gesellschaft und dem Gemeinwohl wachsen diese Kinder auf? Lernen sie Solidarität, lernen sie faire Auseinandersetzung in der Gruppe, lernen sie zu teilen?

Soziale Interaktion ist die Grundlage einer jeden demokratischen Gesellschaft

Selbstredend sollten Eltern ihren Kindern solche gesellschaftlichen Tugenden grundsätzlich beibringen, dafür sind nicht die Schulen allein verantwortlich. Die meisten Mütter und Väter tun das auch. Aber in der Regel haben Kinder und Eltern dabei den dauerhaften Bezug zur Gesellschaft, in der Kita, der Schule, im Sportverein, beim Geigenunterricht. Sozialer Umgang miteinander ist wichtig, sowohl für die Kinder als auch für das Umfeld. Denn daraus entsteht eine Interaktion, die Grundlage einer jeden demokratischen Gesellschaft ist. Enthalten Eltern ihren Kindern diese Interaktion vor, werden diese damit einer wichtigen sozialen Erfahrung beraubt. Und das kann durchaus eine Kindeswohlgefährdung sein.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Ressortleiterin taz.de / Regie. Zuvor Gender-Redakteurin der taz und stellvertretende Ressortleiterin taz-Inland. Dazwischen Chefredakteurin der Wochenzeitung "Der Freitag". Amtierende Vize-DDR-Meisterin im Rennrodeln der Sportjournalist:innen. Autorin zahlreicher Bücher, zuletzt: "Und er wird es immer wieder tun" über Partnerschaftsgewalt.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.