Das unsichtbare Mädchen

Niemand in der Hochhaussiedlung hat Jessica je gesehen. Das Mädchen verhungerte, obwohl der Grundschule aufgefallen war, dass das Kind nie erschien. Heute beginnt der Prozess gegen Jessicas Eltern vor dem Hamburger Landgericht. Die Anklage lautet auf Mord durch Unterlassen

Jessica starb dadurch, dass sie offenbar an ihrem Todestag nach längerer Zeit wieder zu essen bekam

Was sind das für Menschen, die ihr Kind verhungern lassen? Ein Privatfoto, das von Marlies S. und Burkhard M. in den Boulevardblättern kursierte, hat nahezu Zärtlichkeit ausgestrahlt: Es zeigte das Paar in enger Umarmung beim Tanz. Es ist zustande gekommen in einem der Momente, in dem sie ihre Tochter Jessica alleine zu Hause ließen, in einem abgedunkelten Zimmer mit verklebten Fenstern, ohne Heizung, ohne Spielzeug, ohne Nahrung. Viele solcher Momente muss es gegeben haben in Jessicas kurzem Leben, denn Marlies S. und Burkhard M. gingen häufig schon früh am Tag rüber in den Hähnchen-Grill. Bier und Korn ohne Ende haben sie dort getrunken, berichtet der Wirt über seine Stammgäste.

Wie lange das Mädchen abgeschieden von der Welt in seinem Kerker im siebten Stock vegetieren musste – man weiß es nicht, niemand in der Hochhaussiedlung im Hamburger Stadtteil Jenfeld, in der die Familie lebte, hat Jessica je gesehen. Ihre Existenz ist erst bekannt geworden, als sie im jungen Alter von sieben Jahren qualvoll endete. Am Morgen des 1. März ist Jessica gestorben. Ihre Eltern haben sie verhungern lassen. Das ist die andere Seite von Marlies S. und Burkhard M.

Diese Bilder der Eltern stehen in so hartem Kontrast zueinander, dass man auch ihre Tat mit einer Schizophrenie erklären möchte. Auch die Polizei sprach zunächst von einer „Wahrnehmungsstörung“, nachdem sie die ersten Verhöre mit der Mutter geführt hatte. Der 36-Jährigen sei kaum bewusst gewesen, ihre Tochter misshandelt zu haben, hieß es. Marlies S. habe ihre Überzeugung beteuert, „alles für Jessica getan zu haben“. Das Mädchen, sagte sie, „wollte nichts essen. Da kann man doch nichts tun, oder?“ Der Vater hatte ohnehin nicht begriffen, warum die Polizei ihn mit in die Verantwortung nahm. Die Erziehung des Mädchens, sagte der 49-Jährige, sei allein Sache seiner Frau gewesen.

Die Staatsanwaltschaft hingegen glaubt nicht daran, mit Marlies S. und Burkhard M. psychisch kranke Eltern angeklagt zu haben, die nicht einmal erkannten, dass ihre Tochter sterben wird. Für sie ist die Mutter die Mörderin, der Vater der Mörder von Jessica. Totschlag wegen Unterlassen hieß der Vorwurf noch, als die Polizei die Frau und ihren Ehemann verhaftete, das heißt: Sie haben Jessica getötet, indem sie nichts taten, indem sie dem Mädchen nichts zu essen gaben. Das ist mit einer Freiheitsstrafe von mindestens fünf Jahren bedroht.

Inzwischen hat die Staatsanwaltschaft den Vorwurf erhöht. Angeklagt sind die beiden nun wegen Mordes durch Unterlassen. Darauf steht lebenslange Haft. Sie sollen gemeinsam beschlossen haben, ihre Tochter sterben zu lassen. „Grausam“ und zur „Verdeckung einer Straftat“, der jahrelangen Kindesmisshandlung, hätten sie getötet. Und womöglich mit Vorsatz, denn die Ermittler fanden in Jessicas Zimmer einen manipulierten Lichtschalter. Ein nackter Draht ragte daraus hervor, er stand unter Strom. Sollte Jessica beim Lichtanschalten einen tödlichen Schlag erleiden, getarnt als Unfall im Haushalt? Warum aber hat das Mädchen offenbar nie den Schalter betätigt?

Fragen, die beantwortet werden sollen in dem Prozess gegen Marlies S. und Burkhard M., der heute vor der Schwurgerichtskammer des Hamburger Landgerichtes beginnt. Seit Sommer 2000, sagt die Staatsanwaltschaft, haben die Eltern das Kind vernachlässigt. Jessica wog zum Schluss nur noch 9,6 Kilo, das ist das Gewicht eines Babys gegen Ende des ersten Lebensjahres. Gestorben ist sie dadurch, dass sie offenbar an ihrem Todestag nach längerer Zeit wieder einmal etwas zu essen bekam. Ihr Verdauungssystem konnte die Nahrung nicht mehr verarbeiten. Jessica erlitt einen Darmverschluss, erbrach sich und erstickte am Erbrochenen. Die Eltern alarmierten den Notarzt. Spricht das gegen ihre Mordabsicht?

Zurzeit ist offen, ob Marlies S. und Burkhard M. vor Gericht Fragen zu all dem beantworten werden. Ihre Anwälte Manfred Getzmann und Johanna Dräger äußern sich bislang nicht dazu, ob die Eltern im Prozess aussagen werden. Tun sie es nicht, muss die Tat allein über die Aussagen von Zeugen und Gutachtern aufgeklärt werden. Neun Zeugen sind bisher geladen, sechs Gutachter bestellt, anberaumt sind zehn Verhandlungstage.

Um zu verstehen, wie es zum Tod des Mädchens kommen konnte, reicht der Blick auf Jessicas sieben Lebensjahre nicht aus. Nach ihrem Tod wurde die Schuldfrage öffentlich zweigleisig diskutiert. Nicht allein den Eltern wurde die Verantwortung zugesprochen, sondern auch dem Jugendamt und der Hamburger Schulbehörde. Denn die hatten die Familie nicht im Blick, obwohl die Eltern Jessica trotz Schulpflicht niemals bei einer Schule angemeldet hatten – und die Mutter zuvor bereits wegen Vernachlässigung ihrer anderen drei Kinder aufgefallen war.

Marlies S. stammt selbst aus schwierigen Familienverhältnissen. Mit 13 Jahren kam sie zu ihrer Tante, mit 17 in eine betreute Jugendwohnung. Mit 20 wurde sie zum ersten Mal schwanger, ungeplant. Schon ihren ersten Sohn schirmte sie offenbar in einem abgedunkelten Zimmer von der Außenwelt ab. Eine Tante alarmierte das Jugendamt, als der Sohn acht Monate alt und in seiner Entwicklung verzögert war. Marlies S. gab den Säugling zur Adoption frei.

Mit einem neuen Partner, den sie schließlich heiratete, bekam sie weitere zwei Kinder. Auch die hat sie vernachlässigt. Als das Ehepaar sich scheiden ließ, sprach das Familiengericht dem Gatten das Sorgerecht für die beiden Kinder zu.

Über diese Geschichte gibt es Akten beim Jugendamt und beim Familiengericht. Doch die sind nach den Namen der Kinder, nicht nach dem der Mutter sortiert. Folglich war diese nicht unter Beobachtung der Behörden, als sie und Burkhard M. mit dem Säugling Jessica nach Jenfeld umzogen. Dass in der Familie etwas nicht in Ordnung war, fiel erst auf, als das Mädchen sechs Jahre alt wurde und eingeschult werden sollte. Mehrfach hat die in ihrem Stadtteil zuständige Grundschule die Eltern angeschrieben, Marlies S. und Burkhard M. haben einfach nicht reagiert.

Ein Jahr vor dem Tod von Jessica, im April 2004, übergab der Grundschulleiter den Fall an das Krisenteam von Rebus, der „Regionalen Beratungs- und Unterstützungsstelle“ der Hamburger Schulbehörde. Rebus schickte tatsächlich einen Mitarbeiter los in die Hochhaussiedlung, drei Mal sogar. Doch als er immer wieder vergeblich an der Wohnungstür geklingelt hatte, informierte er nicht etwa Jugendamt oder Polizei. Er leitete ein Bußgeldverfahren ein.

Inzwischen tagt in der Hamburger Bürgerschaft ein „Sonderausschuss Vernachlässigte Kinder“, der die Versäumnisse aufarbeiten und Maßnahmen erarbeiten will, um künftige Fälle wie den von Jessica zu vermeiden. Als Sofortmaßnahme nach dem Tod der Siebenjährigen hatte Schulsenatorin Alexandra Dinges-Dierig (CDU) per Dienstanweisung angeordnet, dass die Behörde künftig zwingend die Jugendämter informieren muss, wenn der Verdacht besteht, dass Eltern ein Kind vom Schulbesuch fern halten.

Für Kinder ab sechs Jahren mag das einen gewissen Schutz mit sich bringen. Was aber geschieht mit den Jüngeren?

Elke Spanner