Roman „Das Leben in einem Atemzug“: Indischsein auf dem Prüfstand

Neel Mukherjees Roman „Das Leben in einem Atemzug“ ist eine großartige, multiperspektivisch erzählte Kritik an der indischen Gesellschaft.

Porträt des indischen Schriftstellers

Mukherjees Roman ist eine sozialkritische und pessimistische Lektüre Foto: imago/Leemage

Auslandsinder blicken anders nach Indien: irgendwie gnadenloser. Das gilt auch für den in London lebenden indischen Schriftsteller Neel Mukherjee, der hierzulande mit seinem 2016 erschienenen zweiten Roman „In anderen Herzen“ einige Aufmerksamkeit erregte. Ein üppiges Buch, mehr als 600 Seiten stark, eine generationenüberspannende Familiengeschichte, der Verfall eines Systems, bengalische Buddenbrooks, wenn man so will.

Jetzt ist mit „Das Leben in einem Atemzug“ sein neuester Roman auf Deutsch erschienen, und zuerst möchte man wissen, wer sich solche seltsame Titel ausdenkt: „Das Leben in einem Atemzug“. Om Shanti. Im Original heißt das Buch so schlicht wie treffend „A State of Freedom“, so wie der Vorgängerroman den würdigen Titel „The Lives of Others“ trägt, wor­aus dann „In anderen Herzen“ wurde.

Das ist nicht nur am Rande ärgerlich, denn es steht in diesem Fall konträr zum Inhalt der Romane. Mukherjee mutet seinen Lesern keine in Curryduft schwelgenden Indien-Epen zu, sondern harte realistische Sozialstudien: Er liest der indischen Nation förmlich die Leviten, färbt kein bisschen schön, sondern sagt, wie es ist, was ihm prompt den Vorwurf einbringt, er stelle nur die negativen Seiten des Landes zur Schau.

Touri-Tour zum Tadsch Mahal

Sein neuer Roman gliedert sich in fünf sehr disparate Kapitel, die sich dem Leben in Indien von ganz unterschiedlichen Seiten nähern. Im ersten Kapitel begleitet Mukherjee einen indischen Vater und seinen in Amerika geborenen und lebenden Sohn auf Touri-Tour durch Agra, erst brav zum Tadsch Mahal, dann nach Fatehpur Sikri, einer zum Weltkulturerbe gehörenden Palastanlage, die ob ihrer Menschenmassen und vielen herumwuselnden Bettler manch einen um den Verstand bringt.

Mukherjee beschreibt, was man dort erleben kann, und erzählt in Andeutungen von der sehr speziellen Erfahrung, Tourist im eigenen Land zu sein. Dabei liest sich das schon auf den ersten Seiten, als habe er es dar­auf abgesehen, partout anzuecken. Immer wieder stellt er den indischen Nationalcharakter auf den Prüfstand und befragt listig die Idee vom richtigen Indischsein.

Unvermittelt tragisch lässt er sein Einstiegskapitel dann enden, um im zweiten einen Mann, der aus London einmal im Jahr zu seinen Eltern nach Bombay fliegt, zu begleiten (diejenigen, die dort schon lebten, als es noch Bombay hieß, nennen es weiterhin so und nicht Mumbai, wie es heute offiziell heißt).

Rolle: „Copines“. Golden Press, Bremen 2018, 128 Seiten, 35 Euro

Es handelt sich um eine gut situierte Familie, die es sich sogar leistet, ihre Bediensteten anständig zu behandeln. Das krasse Verhältnis der Herren und ihrer Knechte, wie es in Indien zum Alltag gehört, macht Mukherjee deutlich, indem er die Skrupel des Mannes, dessen liberaler Blick von außen mit den strikten Hierarchien seiner Heimat kollidiert, in all ihrer Widersprüchlichkeit festhält.

So reagiert der Mann etwa auf ein striktes Nein der Köchin folgendermaßen: „Ein tief sitzender, fast im Genom eingeschriebener Kulturmechanismus setzte Empörung – eine Dienerin gab Widerworte! – in meinem Organismus frei. Aber kaum hatte sie sich manifestiert, schnappte die aufgeklärt-liberale Reaktion auf die rückschrittliche Natur der anfänglichen Regung zu und unterdrückte sie sofort. Ich war auf den Grund meines Unbehagens gestoßen.“ Wie umgehen mit der Ungleichheit in der Welt und im eigenen kleinen Leben? Diese Frage buchstabiert der Roman aus, ohne dabei eine klare Mission zu verfolgen.

Das dritte Kapitel widmet sich einem armen Mann, der sich samt Tanzbären auf Wanderschaft begibt. Ein in Indien traditionsreiches Vergnügen, das des Tierschutzes wegen mittlerweile größere Ächtung erfährt. Das interessiert hier aber weniger als der verzweifelte Kampf des Mannes um seine Existenzsicherung sowie die Brutalisierung einer Gesellschaft, die sich gern an Rangordnungen hält, seien es die zwischen Armen und Reichen, Frauen und Männern, Tieren und Menschen oder Kindern und Eltern. Diese Ordnungsprinzipien, bei denen immer klar ist, wer oben steht und wer unten, bringt der Roman zumindest gedanklich ins Kippen, indem er ihre Willkürlichkeit durchschaut.

Endlich Frauen und Mädchen

Im vierten Kapitel, das sich noch mal in zehn kleinere unterteilt, erzählt Mukherjee dann endlich einmal von Frauen bzw. Mädchen: von Milly und ihrer genialen Freundin Soni. Beide sind gut in der Schule, doch von ihren Familien und der Gesellschaft, in der sie leben, nicht zu Höherem bestimmt. Die eine wird sich bald als Hausmädchen schlecht behandeln lassen, während die andere sich einer Untergrundbewegung anschließt.

Die Klassenfrage stellt Mukherjee diesmal ebenso ausdauernd wie unerbittlich

Das Kapitel beginnt mit einem Satz, den man seiner Splatterhaftigkeit wegen zweimal liest: „Das erste Bild, das ihr in den Sinn kam, wenn sie an jenen Tag dachte, war der sprühende Bogen, den das Blut beschrieben hatte, als sie die rechte Hand ihres Bruders ins Gebüsch warfen.“

Mukherjees Hang zur Drastik kommt manchmal etwas too much daher, doch das gilt für die indische Lebenswirklichkeit im Allgemeinen auch. Die Missstände in dem Land sind einfach zu groß, weswegen es falsch wäre, dem Autor vorzuwerfen, er schmälere die Leistungen des Landes, indem er positive Entwicklungen verschweigt.

Mit dem letzten, sehr kurzen Kapitel schlägt er den Bogen zum ersten und leiht abermals einem Randständigen seine Stimme. Dabei besticht der Roman eher mit seinen Perspektivwechseln als mit stilistischer Raffinesse. Mukherjee ist ein Beschreibungskünstler, dem hier und da wirklich tolle Bilder gelingen, wobei man diesmal zum Eindruck kommen kann, er verwerte, was noch in seinen Schubladen schlummerte. Zwar führt er einzelne Figuren durch unterschiedliche Kapitel, sodass man von einem Episodenroman sprechen könnte, doch das wirkt eher hölzern als geschmeidig.

Das eigentliche Thema des Romans: Menschenverachtung

Übersetzt haben das die mit Indien vertrauten Eheleute Giovanni und Ditte Bandini, die auch schon den Vorgängerroman anstandslos ins Deutsche übertrugen. An dieser Stelle sei noch auf das vorbildliche Glossar und auf die extrem liebevolle Ausstattung des Bandes hingewiesen.

Zentraler scheint das eigentliche Thema des Romans: Menschenverachtung. In jedem Kapitel kommen welche vor, die verachtet werden, aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Herkunft, ihres Benehmens, ihres sozialen Rangs. Mukherjee benennt das genau und folgt dabei den Spuren von Charles Dickens und seinen gesellschaftskritischen Romanen. Wie schon „In anderen Herzen“ ist auch „Das Leben in einem Atemzug“ ein sozialkritisches und pessimistisches Buch.

Die Klassenfrage stellt Mukherjee diesmal ebenso ausdauernd wie unerbittlich. Eines der Mottos für seinen Roman hat er sich vom Schriftsteller V. S. Naipaul ausgeliehen: „Schließlich formen wir uns nach den Vorstellungen, die wir von unseren Möglichkeiten haben.“Es stammt aus Naipauls Roman „An der Biegung des großen Flusses“, der mit dem Statement beginnt: „Die Welt ist, was sie ist; Menschen, die nichts sind, die sich erlauben, nichts zu sein, haben in ihr keinen Platz.“

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