Pornografischer Debütroman: Grüße aus dem Stroboproletariat

Bringt Sex Erlösung? Kann man mit Sex alte weiße Männer beherrschen? Der radikale Roman von Anna Gien und Marlene Stark gibt Antworten.

Schwarzweißfoto der Autorinnen Marlene Stark und Anna Gien. Ihr drastischer Debütroman heißt "M" und ist bei Matthes und Seitz Berlin erschienen.

Ihre Figuren haben sie gut im Griff: Marlene Stark (links) und Anna Gien Foto: Julien Menand

Dass in deutschen Verlagen Bücher voller Sexszenen erscheinen, die man nebenbei als Playlists benutzen kann, kommt nicht oft vor. Wenn es in deutschen Romanen um Sex, Musik und andere Indizes des Gegenwärtigen geht, kann man sich als Leserin glücklich schätzen, wenn das Schlimmste ausbleibt. Schon deswegen hat uns der Verlag Matthes & Seitz Berlin, der Jahr um Jahr immer noch mehr, noch bessere Bücher herausbringt, mit dem Romandebüt von Anna Gien und Marlene Stark ein Geschenk gemacht.

„M“ heißt das grell glitzernde Ding. Ob es wirklich ein Roman ist, darüber kann man sich streiten, das klären wir später. Seine Protagonistin heißt ebenfalls M., ist Künstlerin und hat ständig Sex in sehr unterschiedlichen Konstellationen. Als Kind steckte sie sich Walnüsse in die Unterhose und ließ sich Jürgen rufen. Heute penetriert sie Galeristen mit dem Umschnalldildo.

Weil M. auch DJ ist, lässt sie uns daran teilhaben, was sie nachts in Berliner Clubs spielt: New Wave, Techno, Krautrock. Es herrscht Synthesizersehnsucht, auch mal mit Flöte. Die meisten der Songs, die M. erwähnt, haben nur ein paar Hundert Views auf YouTube vorzuweisen. Das zeigt, dass wirklich nur diejenigen sie kennen, die ihre Zeit vergeuden, um sich „jeder Leistungslogik zu entziehen“, anstatt irgendwas Vernünftiges mit ihrem Leben anzustellen.

Diese jüngste Generation von Bohemiens hat „mit dem Phantasma, seinen Teil beitragen zu können, abgeschlossen“. Das sagt die Ich-Erzählerin M. über sich und ihre Freunde. Allesamt haben sie ein Faible für dezent zur Übertreibung neigende Formulierungen: „Wir sind Stroboproletariat.“

Ich ist ein Seismograf

„M“ ist ein drastischer Text, der von den Exzessen des Nachtlebens erzählt. Sex ist das Medium, in dem sich M. und ihre Freundinnen mit ihren Körpern, ihrem Begehren, aber auch mit den anderen, mit den Mächtigen konfrontieren.

„Ich bin ein Seismograf für Männer, die penetriert werden wollen“, sagt M. über sich. „Richard steht es auf die Stirn geschrieben. Männer wie er, einflussreich, dominant, exzen­trisch mit einem kleinen Hang zur Theatralität, sehnen sich nach nichts mehr als ein ganz klein wenig adäquate Erniedrigung durch eine Frau mit einem Plastikschwanz.“

Hochschlafen funktioniert nicht

„Ich bin ein Seismograf für Männer, die penetriert werden wollen“, sagt M.

Richard ist erfolgreicher Galerist. M. penetriert ihn, obwohl sie weiß: „Das mit dem Hochschlafen ist so eine Sache. Eigentlich funktioniert es nicht. Einmal Ficken bringt gar nichts. Im Gegenteil. Meist zerstört es die zarten Potenziale einer Begegnung sogar. Der Drahtseilakt zwischen inszeniertem Versprechen und gradueller Einlösung darf eigentlich nie, nie in echtem Sex enden.“

Nüchterne, an de Sade geschulte Sexszenen verraten in ihrer Lakonie wenig über das Begehren, das hinter ihnen steckt. Hier wird trotz aller Strap-on-Aktionen, Cumshots und Penetrationen mehr versteckt als gezeigt. Man hat beinahe das Gefühl, dass vor allem die Verletzlichkeit der Handelnden verborgen werden soll, die schnell auf dem Klo performten Sex und Sperma auf der Hose als etwas zu betrachten scheinen, das nicht außergewöhnlicher ist als ein Drink an der Theke.

Die Hingerissenheit

„Das ist der Moment, an den man nicht gedacht hat, als man mit Dreiern und Orgien liebäugelte“, dämmert es M. an einer Stelle. „Es ist ja irgendwie Irrsinn, zu glauben, man könnte sich ganz frei machen. Denn auf einmal ist sie da, die Zärtlichkeit in der Berührung, die Sympathie für die feinen Härchen, die Hingerissenheit.“

Trotz der Nonchalance, die sie beim Austausch von Körperflüssigkeiten an den Tag legt, ist Sex für M. immer noch mit Scham verbunden: „Die Gier übersteigt den Stolz nicht und die Erziehung jedes guten deutsch-christlichen Haushalts lehrt uns, dass der eigene Körper unantastbar ist und einer sakralen Pflege bedarf“, sinniert sie.

Zugleich verspricht Sex diesen jungen Frauen (und vermutlich auch den Männern) aber Selbsterfahrung, vielleicht Erlösung: „Dieser Moment war für mich immer einer der wenigen, in denen ich das Gefühl hatte, bei mir zu sein.“

Die Mutter hat es gehört

Einer der eindrücklichsten und psychologisch elaboriertesten Momente dieses Texts ist der weihnachtliche Heimatbesuch der Protagonistin bei den Eltern und der Schwester. Wie immer kommt M. Heiligabend zu spät in der bayerischen Vorstadtsiedlung an. Die Neffen und Nichten schlafen schon. Als sie am nächsten Morgen die Küche betritt, hören alle auf zu sprechen „und schauen mich an, als sei jemand gestorben“.

M. hat nachts stundenlang mit einer flüchtigen Bekanntschaft Cybersex gehabt. Die Mutter hat es gehört und denkt nun, die Tochter verdinge sich als Teleprostituierte. Schlimmer als das: Die Mutter glaubt, ihre Tochter, die in Berlin lebende Künstlerin, sehe auf sie und ihr normales Leben herab.

Sehr feines Eierschaukelvokabular

Anna Gien, 1991 in München geboren, hat Kunstgeschichte studiert und arbeitet als Kuratorin und Kolumnistin der Kunstzeitschrift Monopol. Auch ihre Kollegin Marlene Stark, Jahrgang 1985, kommt aus dem Süden, ihr Geburtsort Ellwangen ist gut zwanzig Kilometer von der Grenze zu Bayern entfernt. Stark ist gelernte Malerin. In ihrer Kunst arbeitet sie mit Sound, Musik und Text. Wie ihre Protagonistin ist sie DJ.

Es ist offensichtlich, dass „M“ autobiografische Bezüge hat. Und es steht zu vermuten, dass auch die mittelalten Galeristen „mit ihrem eigenen, sehr feinen Eierschaukelvokabular“ aus rea­len Vorbildern zusammengesetzt sind.

Keine Verkitschung der Verhältnisse

Gewidmet haben Gien und Stark ihr Debüt fast 250 Frauen, deren Vornamen alphabetisch aufgelistet sind. In die hier anklingende Frauentagssolidarität würde ich gern einen Keil treiben. Denn ihren Roman liest man unter anderem deswegen mit Vergnügen, weil die Perspektive von Gien und Stark gerade nicht diejenige der jungen weißen Karrierefrauen ist, deren strategischer Feminismus keine Klassen kennt, für die eigenen Privilegien blind ist und die Einrichtung der Welt, abgesehen vom Gender-Pay-Gap, ganz okay findet.

In zehn Jahren werden diese jungen weißen Karrierefrauen dann genauso autoritäre, selbstgefällige Chefs, Vorsitzende, CEOs, Kreativdirektorinnen und Herbergsmütter sein wie die alten weißen Männer, die sie so dringend beerben wollen.

Was aber, wenn dein Boss einen Rock trägt, und alles ist wie immer? Dann war viel #Aufschrei um nix. Gien und Stark haben an der Verkitschung der Verhältnisse, Mutter Gaia sei Dank, kein Interesse. Daher haben sie ihrer Protagonistin M. auch keine runde Geschichte anzubieten, in der Widerstände überwunden werden oder gar das Glück gefunden wird. Sie „entwickelt“ sich, ja. Aber eben nicht im Sinne einer klassischen Romanfigur. Am Ende ist alles, wie es am Anfang war.

Nichts entwickelt sich

„Wenn man keine Tupperdose hat, keine Foliensträhnchen, keinen Aktenkoffer, kein Großraumbüro, keine Zweizimmerwohnung im Prenzlauer Berg, kein Neubauhaus in Dillingen, keine Wachsjacke, kein Stipendium und keine Galerie, welche Erzählung bleibt dann noch?“, fragt sich M. anfangs. Am Ende heißt es: „Das hier ist ein Film ohne Anfang und ohne Ende.“

Anna Gien und Marlene Stark: „M“. Matthes & Seitz Berlin, 2019, 248 Seiten, 20 Euro.

Diese Romanfigur kann keine Romanfigur sein, weil ihre Lebensbedingungen es nicht zulassen. So kann einen dieser Antiroman auf die Idee bringen, dass sich in einem Leben heute eben gerade nichts „entwickelt“. Eine Episode reiht sich an die ­andere wie ein Job an den anderen. So wie dem einen Praktikum ein zweites und drittes, einem Boyfriend der nächste folgt.

„Birth School Work Death“, dieser Songtitel der Godfathers (der nicht im Roman vorkommt), fasste für Heranwachsende in den 1980ern das Schreckgespenst der Disziplinargesellschaft, die Institutio­nenfolge vom Krankenhaus zum Kindergarten, zur Schule, zur Stelle, zum Hobbykeller und schließlich zur Grube in einer griffigen Formel zusammen.

Für die Millennials mag das beinahe nostalgisch klingen. Wie viele der Songs, die M. auflegt: „Ich glaube, das, was hier drin passiert, ist nicht nur Nostalgie. Vielleicht geht es um Sicherheit. Die Wiederholung ist ein Mantra, an das wir uns klammern.“

Die Mächtigen sind lächerlich

So handelt „M“ auch vom Leben in einer Gesellschaft, die als Ganze an einer Form von Wohlstandsverwahrlosung leidet. Einerseits ist der gesamtgesellschaftliche Reichtum so groß wie nie, andererseits wird viel dafür getan, bestimmte Menschen möglichst wenig an ihm teilhaben zu lassen, die öffentlichen Institutionen zu schwächen und so allgemeine Verunsicherung zu verbreiten. Die Mächtigen sind als „alte weiße Männer“ vielleicht zu Recht lächerlich gemacht worden. Das heißt aber noch lange nicht, dass sich die weniger Mächtigen nun ermächtigt fühlen könnten.

Ist „M“ deswegen eine deprimierende Lektüre? Nein. Es macht großen Spaß, dieses Buch zu lesen. Weil es voller treffender Beobachtungen ist und Humor hat.

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