Russisches Dorf wehrt sich: Müll macht mobil

In Urdoma, so dachten sich Putins Bürokraten wohl, werde es keinen Ärger geben, wenn man den Abfall ablädt. Sie haben sich getäuscht.

Tief verschneite Häuser im Halbdunkeln

Eisig und widerständig: Das Dorf Urdoma wehrt sich gegen den Moskauer Müll Foto: Klaus-Helge Donath

URDOMA taz | „Eine Minute zum Aussteigen!“ mahnt der Schaffner, hüpft aus dem Waggon und versackt bis weit über die Knie im Schnee. 1.250 Kilometer nördlich von Moskau zeigt der Winter keine Allüren. Auf dem Bahnsteig der kleinen Station an der Strecke von Moskau nach Workuta räumt abends niemand den Schnee weg. Drei Reisende verschlägt es an diesem Tag hierher. Den Weg durch die Wehen müssen sie sich selbst bahnen.

Ur-do-ma nennt sich der kleine Ort. „Ur“ steuerten die finnisch-ugrischen Urbewohner bei. Doma – das Haus – stammt aus dem Russischen. Ur-doma bedeutet so viel wie Heimat des Eichhörnchens.

Der Name verspricht himmlische Ruhe. Im Winter verstecken sich die Nager in den verschneiten Wipfeln der Nadelbäume. Dort halten sie ihre Winterruhe.

Diese Idylle ist bedroht. Es war im letzten Sommer, da entdeckten die Urdomaer, fast beiläufig, dass die Zentralgewalt in Moskau mit ihnen etwas ganz Großes vorhat. In der Umgebung und hinter ihrem Rücken wurde daran schon gearbeitet. Eine gigantische Mülldeponie, die einen Teil der Abfälle aus der Hauptstadt Moskau auffängt, soll hier entstehen. Die Bauarbeiten an der Bahnstation Schies mitten in der Taiga haben schon begonnen, 30 Kilometer von Urdoma entfernt.

Erst ahnungslos, dann umso lauter im Protest

Inzwischen ist Urdoma so etwas wie ein Ort der Bewegung geworden. Von den 4.500 Bürgern der Ortschaft nimmt ein Drittel regelmäßig an Demonstrationen teil. Bei der ersten Aktion im Dezember kamen 30.000 Menschen, auch aus der Umgebung. Am letzten Sonntag sind es bei krachender Kälte von mindestens 20 Minusgraden über 20.000.

„Wir hatten keine Ahnung“, sagt Swetlana Babenko. Die rüstige Rentnerin ist die Seele des Komitees „Sauberes Urdoma“, das seit August den Widerstand der Einwohner organisiert. Früher arbeitete Babenko in der kommunalen Hauswirtschaft. Noch immer sei sie in der Welt der Ämter und Funktionäre gut vernetzt, lacht die freund­liche Aktivistin. Sie sitzt zusammen mit Dutzenden Gleichgesinnten in einem kleinen Büro im Kulturhaus, das ihnen die Eisenbahn kostenlos zur Verfügung gestellt hat. Die Mitglieder des Komitees sind schon etwas älter.

Die Nachricht von der Mülldeponie schlug im Juli ein wie ein Blitz, sagt Babenko. Zwei Männer seien damals durch die Taiga gestreift, hätten gejagt und Beeren gesammelt wie die meisten Menschen in dieser Jahreszeit. Bei Schies seien sie auf einen Bautrupp gestoßen, der die Taiga rodete. Die machten gar kein Hehl daraus, dass Moskau eine Müllkippe anlegen wollte“, berichtet Babenko. „Wir haben noch im August 800 Unterschriften gegen die Deponie gesammelt.“ Doch das habe nichts gebracht. „Vor allem konnten wir zu den Betreibern des Abfallgeschäfts in Moskau keinen Kontakt herstellen“, meint Babenko. Sie bleibt dabei sachlich und verliert nie die Ruhe.

Zunächst war von 300 Hektar die Rede, die für den Abfall in Schies gerodet werden sollten. Inzwischen kursieren Gerüchte, dass die Deponie die größte Entsorgungseinrichtung Europas werden sollte, mit rund 5.000 Hektar Fläche. Das entspricht der Größe von mehr als 7.000 Fußball­feldern. Schon im nächsten Jahr soll die Anlage in Betrieb gehen.

Versprechen, die die Bewohner nicht glauben

„Niemand will mit uns reden“, klagt Nikolai Wiktorow. Er ist einer der aktivsten Gegner des Müllvorhabens. Eigentlich arbeitet der zähe, hochgewachsene Mann als Unternehmer. Er handle mit allem Möglichen, schmunzelt Wiktorow. Die Arbeit an der Heimatfront schlucke jetzt schon mehr Zeit als früher, sagt er.

„Keiner von uns will hier wegziehen“, sagt er entschlossen. Die Gefahren für das Ökosystem seien groß. Was passiere mit dem Trinkwasser, fragt er. Überhaupt keine Klarheit gebe es über die Verpackung der Müllbriketts, die auf der Anlage gelagert werden sollen.

Bereits in Moskau, so heißt es offiziell, werde der Müll vor der Verladung in Abfallpakete verschweißt. Unter der Erde sollen die Folien 30 Jahre lang halten. Das geht zumindest aus einem Faltblatt hervor, das diese Methode anpreist. Es handelt sich um eine Werbebroschüre, die auf die Einzelheiten des Bauplatzes nicht eingeht.

„Was passiert, wenn vorher schon Gifte austreten?“, will Nikolai Wiktorow wissen. Den Antworten der Betreiber vertraut er nicht. Wo sollte Vertrauen auch herkommen?

Der Millionen-Einwohner-Moloch Moskau kämpft seit Langem mit Abfallbergen. Im gesamten Umland der Hauptstadt scheuchten die übel riechenden Kippen im letzten Sommer Politiker auf. Die Stadt entschied deshalb, die Rückstände zu entsorgen, und zwar möglichst weit weg, wo es weniger auffällt.

Mal sehen, wer den längeren Atem hat

Je weiter sich der Protest in Urdoma entwickelte, desto klarer wurde: Entwürfe und seriöse Pläne gibt es nicht. Es haben weder ökologische noch geologische Voruntersuchungen stattgefunden, es liege auch keine Verträglichkeitsstudie vor, die sonst zum Standard gehöre, meint Nikolai ­Wiktorow. Er ist auch Betreiber der Website urdoma.info. Die hält nicht nur die Region auf dem Laufenden, sie macht die Heimat des Eichhörnchens auch russlandweit bekannt.

Die Sumpflandschaft um Schies mit zusammen mehr als 150 Bächen liegt in unmittelbarer Nähe der Anlage. Diese Sümpfe liegen höher als die Waldwege, manchmal thronen sie mehr als einen Meter über dem Pfad. Sie versorgen Bäche mit Wasser, die in die Flüsse Wytschegda und Sewernaja Dwina fließen. Später mündet die Dwina ins Weiße Meer. Das Meer und die Barentssee mischen sich. Daher besteht die Gefahr, dass Finnland, Schweden und Norwegen am Ende in Mitleidenschaft gezogen werden könnten. „Vor der Küste von Archangelsk macht das Problem nicht halt“, darin sind sich alle AktivistInnen einig.

Ludmila Marina nimmt ihre beige Kopfbedeckung anscheinend nie ab. Auch auf jedem Foto ist sie mit diesem Turban zu sehen. Marina war jahrelang kommunale Abgeordnete und spricht wie gedruckt. Jeder Einwand, den sie formuliert, klingt wie eine schriftliche Eingabe. Minutiös liefert sie Begründungen für jegliches Anliegen. Forderungen und Auflagen der Bürokratie würde sie nichts schuldig bleiben. Es bereitet ihr schon Genugtuung. Mal sehen, wer den längeren Atem hat.

Keine Namen, keine Autokennzeichen: Die Geisterbaustelle

Eigentlich sei die Lage, auch wenn sie unübersichtlich zu sein scheint, ziemlich eindeutig, meint Marina. Die gesetzlich vorgeschriebenen Vorgaben für ein derartiges Bauvorhaben seien nicht nur nicht eingehalten worden, man hätte sie einfach übergangen. Öffentliche Anhörungen fanden nicht statt.

Russische Verhältnisse gestatten gelegentlich individuelle Lösungen. Das hängt davon ab, wer hinter einem Projekt steht. Das Vorgehen des „Ekotechnoparks“, der als Betreiber fungiert, sei aber der Gipfel der Dreistigkeit, meint Ludmila Marina.

Nach einem halben Jahr steht auf der Baustelle bei Schies noch immer keine Tafel, die Bauvorhaben, Träger und beteiligte Firmen ausweist. Dass in den ersten Monaten die Baulastwagen ohne Nummernschilder herumfuhren, passt in dieses Bild.

Der Gouverneur will etwas „Seriöses“ aufbauen

Die russischen Verwaltungsgebiete Twer, Wologda und Jaroslawl waren bereits zuvor gefragt worden, ob sie Moskaus Müll beherbergen wollten. Alle sagten ab. Bis in den Oktober gab auch der Gouverneur von Archangelsk, Igor Orlow, das Müllvorhaben noch nicht öffentlich zu.

Danach trumpfte er umso lauter auf: „Gott hat uns diesen Ort gegeben, damit wir etwas Seriöses bauen“, sagte er. Das Seriöse entpuppte sich als die Deponie und wurde schnell zum geflügelten Wort. Fast jeder Aktivist erwähnt den gottgegebenen Ort einmal im Gespräch.

Inzwischen wurde mehr über die Firma bekannt, die hinter dem Vorhaben steckt. Moskaus „avtomobilnije dorogi“, Moskaus Straßenverbund und das Wassernetz der Hauptstadt „wodokanal“ gehören dazu. Igor Tschaika, der Sohn des Generalstaatsanwalts Tschaika, hat auch seine Finger im Spiel.

Sechs Monate zieht sich die Auseinandersetzung bereits hin. Längst ist daraus ein Kampf geworden, in den sich eine ganze Region eingeschaltet hat.

Die Menschen fühlen sich betrogen. Daran ändert auch nichts, dass der Gouverneur den Bürgern einiges im Tausch anbieten kann. 10 Milliarden Rubel Investitionen etwa, Hilfen für Schulen und Krankenhäuser.

Älterer Mann mit geler Signalweste im Schnee

„Ich war früher ein Putin-Mann“: Igor Kutschinsky überwacht für die Umweltschützer die Baustelle Foto: Klaus-Helge Donath

Wie aus Putin-Freunden Rebellen werden

In Urdoma ist der Energiekonzern Gazprom der größte Arbeitgeber. Der Gasproduzent unterhält eine Kompressorstation, die den Druck in der Röhre Richtung Westen kontrolliert. Alle 200 Kilometer gibt es so eine Kontrolleinrichtung. „Wir verdienen keine Reichtümer“, meint Alexander, der als Facharbeiter für Gazprom arbeitet. Aber es reiche. Mit seiner Frau wohnt er in einem großen Haus, ein neuer Wagen steht vor dem Tor. Auf dem Tisch dampft das frische Fleisch eines selbst erlegten Hirschs.

Und doch ist er enttäuscht wie so viele andere. „Warum betrügen sie uns?“, fragt er. Er meint den Gouverneur, die Regierung und die reichen Müll­oligarchen aus Moskau. Spiele mit verdeckten Karten, Halb- und Unwahrheiten machen die Urdomaer wütend. Hinzu kommt: Sie fürchten, einem unkalkulierbaren Gesundheitsrisiko ausgesetzt zu werden. Nichts sei mehr wie früher, meinen viele.

Die Urdomaer sind keine Hinterwäldler. Sie haben Mülltrennung bei sich schon eingeführt, als der Staat noch nicht einmal daran dachte. Sie sammeln Plastikflaschen zur Wiederverwertung und haben Dutzende Ökopreise gewonnen. Sei es nicht ein Treppenwitz, dass ihnen ein Müllkippe vor die Tür gesetzt werde?, fragt Marina Pachtusowa, eine umtriebige Ökoaktivistin.

Sollten etwa ausgerechnet Angestellte von Gazprom eine Keimzelle von Unruhe und Protest begründen? Noch vor Monaten wäre das undenkbar gewesen. Bislang hält sich der Energiegigant aus dem Zwist heraus. Die Mutation der ruhigen Jäger und Sammler zu Bürgern, die Rechte einfordern, vollzog sich in Windeseile ausgerechnet in diesem Krähwinkel.

Schies ist in diesen Tagen nur über eine zugefrorene Trasse aus Eis, Schotter und Schnee zu erreichen. Die Welt drumherum ist tief verschneit. Eine Märchenlandschaft. Die Temperaturen fallen auf knapp 40 Grad unter Null. Gas und Ölleitungen verlaufen parallel zur Straße. Sie stammen aus Sibirien und sind Russlands Lebensader. Deren Fluss kontrolliert Gazprom im Schaltwerk in Urdoma.

Die Bauarbeiten in Schies gehen in rasantem Tempo voran. Die Arbeiter stammen nicht aus der Umgebung. Zurzeit legen sie neben den Eisenbahngleisen Betonplatten für die Weiterverladung des Mülls aus den Zügen auf Lastwagen.

Riesige Sandberge sind aufgeworfen, die den sumpfigen Boden trocken legen sollen. Früher wurden hier wegen des Wassers und der Feuchtigkeit nicht einmal Tote bestattet. Dennoch liegen hier die Gebeine jener Opfer, die in den Gulags lebten und die in den 1930er Jahren die Gleise in arktischer Kälte durch Taiga und Tundra bis nach Workuta treiben mussten. Wer umfiel, blieb auf dem Damm liegen.

Der Bauwagen als Beobachtungsstation

Vor der Baustelle haben die AktivistInnen einen eigenen Bauwagen in Stellung gebracht, 150 Meter neben der Bude, wo ein Aufseher die Zufahrt kontrolliert. Die Taiga ist fast eben. Von einer kleinen Anhöhe von einem Meter aus lässt sich weit schauen.

Der Bauwagen mit den freiwilligen Wächtern ist rund um die Uhr besetzt. Jeder kann sich einteilen lassen. Die Wächter stammen aus verschiedenen Teilen des Archangelsker Gebiets, das nur ein wenig kleiner als Frankreich ist.

Die Innenausstattung im Wagen ist spartanisch. Warm und trocken muss es sein. Das Holz für den Ofen liefert das Komitee aus Urdoma. Vor Ort das Holz zu schlagen sei verboten. Zehn bis vierzehn Tage dauert eine Schicht.

Gerade teilen sich Andrei Jermalow und Igor Kutschinsky die Arbeit. Kutschinsky ist Rentner mit viel Zeit, Jermalow ist über die 40 und hat Urlaub von seinem Taxifahrerjob in Jarensk genommen. Sie sollen das Geschehen auf der Baustelle überwachen. Draußen am Wagen hängt eine Kamera, die alle Bewegungen ins Innere überträgt. „Pomore ne pomoika“ steht rot auf weiß auf einem Schild draußen an der Tür: „Pomorje (Meeresküste im Norden) ist keine Müllhalde“.

Andrej Jermalow und Igor Kutschinsky sind keine typischen Aktivisten, wenn es denn so etwas gibt. Sie vertreten auch keine eigenwillige politische Botschaft. Sie machen sich einfach Sorgen um die Lebensfähigkeit der Heimat, des Wilds, der Fische und Beeren. Bisher war das ihr Leben. Sie sehen aus wie Trapper. Zum Waschen fehlt das Wasser, klagen sie.

Kutschinsky schwärmt dafür von der Luft, die so lecker sei, dass man sie sich aufs Brot schmieren müsste. „Ich war früher ein Putin-Mann, unerschütterlich“, sagt er. Der Kremlchef hat bislang auf die Briefe des Komitees nicht reagiert, Swetlana Babenkos Besuch im Föderationsrat der Duma verlief ergebnislos. Andrej Jermalow ist frustriert, er würde die Sache gerne beschleunigen. Auch wenn dabei Späne flögen?

Die meisten Männer im Norden gehen auf die Jagd. Sie haben verschiedene Gewehre für Raub- und Federvieh. Unlängst überprüfte die Polizei in Urdoma die Jagdwaffen.

Die Begeisterung für Putin lässt nach. Mit der Erhöhung des Rentenalters in Russland fing es an. Die schlechte wirtschaftliche Lage drückt inzwischen auch aufs Vertrauen. Bis dahin wurde der Kremlchef für einfache Belange des Lebens nicht in die Pflicht genommen. Ihn umgab der Nimbus eines Weltenlenkers, über jede Kritik erhaben.

Der Präsident antwortet nicht

Urdomas Aktivisten sind tief getroffen: Präsident Wladimir Putin hat nicht eines der vielen Schreiben beantwortet.

Sie hätten doch jetzt recht, sich ans Ausland zu wenden!, heißt es auf einer Versammlung. „Ich würde sogar die Amerikaner fragen“, meint Marina. Das gilt in Russland fast schon als ein Frevel! Die USA stehen für das Böse schlechthin.

Missachtung, Lüge und Überheblichkeit bringen die Leute auf. Ende Januar haben die angehenden Deponiebetreiber im Kulturhaus Urdomas noch eine Versammlung abzuhalten versucht. Es sei so getan worden, als sollte die Öffentlichkeit informiert werden, beklagen sich die Aktivisten. Die geladenen Gäste stammten indes aus anderen Landesteilen. Für einheimische Besucher blieb der Saal verschlossen.

Selbst die Veranstaltung war ein Fake.

Die Aktivisten hatten schon vermutet, dass ihnen das Leben noch schwerer gemacht werden könnte. Das war der Grund, warum sie von Anfang an keinen Vorsitzenden wählten. Das Komitee funktioniert „horizontal“, schmunzelt Swetlana Babenko verschmitzt. Keiner darf in Eigenregie entscheiden. Damit schützen sie sich gegen Korruptionsversuche von oben.

Sie geben sich siegessicher in Babenko. Bislang hätten sie noch jeden Betrug aufgedeckt.

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