Debatte Rot-Grüne Sozialreformen: Ihre Pläne haben etwas Unernstes

SPD und Grüne profilieren sich mit linken Sozialstaatsreformen. Doch sie drücken sich um die Frage der Finanzierung herum.

Eine Frau zieht mit ihrem grünen Lippenstift die roten Lippen nach

Linke Sozialpolitik? Rot-Grün versucht nachzuziehen Foto: Karsten Thielker

Sozialdemokraten und Grüne profilieren sich gerade mit Sozialstaatsreformen, die das Leben vieler Menschen verbessern würden. Die SPD etwa plant eine Grundrente für Niedrigverdiener, die lange gearbeitet haben – und will Hartz IV durch ein Bürgergeld ersetzen. Das Sanktionsregime würde abgeschwächt, Wohneigentum und Vermögen würden nicht so schnell angetastet, das Arbeitslosengeld I soll für ältere Menschen länger gezahlt werden.

Alle Ideen haben eines gemeinsam: Sie sind teuer. Doch über die Gegenfinanzierung schweigen sich wichtige SPDler aus. In dem 15-seitigen Sozialstaatspapier, das der SPD-Vorstand beschlossen hat, steht kein Wort über das nötige Geld. Arbeitsminister Hubertus Heil taxiert allein für die Grundrente Kosten von 4 bis 6,5 Milliarden Euro im Jahr – und verspricht mit Finanzminister Olaf Scholz, „ein solides Modell zur Finanzierung vorzustellen“. Leider entdeckt Scholz gleichzeitig ein 25-Milliarden-Loch im Bundeshaushalt, weil sich der Aufwärtstrend der Wirtschaft verlangsamt. Beides zusammen ergibt eine interessante Vorstellung von Solidität.

Die Grünen gehen sogar noch weiter. Die Fraktionsvorsitzende Katrin Göring-Eckardt brachte das Kunststück fertig, der SPD bei der Grundrente vorzuwerfen, dass die Finanzierung nicht gesichert sei – und zu verschweigen, dass die grüne Garantierente noch teurer wäre. Jene soll bereits nach 30 statt nach 35 Versicherungsjahren gezahlt werden, der Kreis der Begünstigten wäre deutlich größer.

Auch der grüne Abschied von Hartz IV würde mehr kosten. Anders als die SPD will die Ökopartei die Regelsätze erhöhen. Das ist auch dringend nötig, weil die derzeitigen Sätze für gesellschaftliche Teilhabe nicht ausreichen. Aber der Aufschlag treibt eben die Kosten in die Höhe. Die grüne Garantiesicherung schlüge laut Parteichef Robert Habeck mit 30 Milliarden Euro pro Jahr zu Buche.

Bloß nicht zu konkret werden

Auch Habeck, der sich gern dafür lobt, Forderungen „scharf zu stellen“, bleibt lieber wolkig, wenn es um die Finanzierung geht. Er möchte Steuerschlupflöcher schließen, wissend, dass dies ein Projekt für den Sankt-Nimmerleins-Tag ist, weil dafür kaum erreichbare internationale Abkommen nötig sind. Die Frage des Geldes ist aber keine Kleinigkeit. An ihr entscheidet sich, ob die Konzepte eine Chance auf Realisierung haben. Dass SPD und Grüne diese Frage auf Teufel komm raus vermeiden, ist keine Gedankenlosigkeit, sondern Absicht.

SPD und Grüne leiden seit der Wahl 2013 am Steuertrauma, damals wirkte die konservative Kampagne

Beide Parteien leiden am Steuertrauma der Bundestagswahl 2013. Damals zogen sie mit exakt gerechneten Steuererhöhungen in den Wahlkampf, die vor allem die obersten paar Prozent belastet hätten. Doch Union, FDP, Arbeitgeberverbände und liberalkonservative Medien deuteten die Vorschläge in eine Attacke auf Normalverdiener der Mittelschicht um. Mit der Wahrheit hatte das wenig zu tun, aber die Kampagne wirkte.

Seitdem befinden sich SPD und Grüne in einer Angststarre. Bloß keine Erhöhungen fordern, bloß nicht zu konkret werden, bloß nicht auffallen. Das mag taktisch nachvollziehbar sein, weil mächtige Lobbys keine Umverteilung von oben nach unten wollen. Außerdem lauern in der komplexen Materie reale Probleme. Es ist schwierig, eine Grenze zwischen dem SPD wählenden Produktionsleiter, dem Grün wählenden Chefarzt und den wirklich Reichen zu ziehen.

Es wäre deshalb falsch, SPD und Grünen eine sture Wiederholung des Wahlkampfs 2013 zu empfehlen. Aber ehrlich, gar mutig ist verdruckstes Schweigen eben auch nicht. Darf, wer „radikalen Realismus“ (Grünen-Chefin Annalena Baerbock) proklamiert, einen zentralen Punkt ignorieren? Das wäre intellektuell dann doch ein bisschen fragwürdig.

Besteuerung vermeiden

Ein wenig mehr Kontur, ein paar mehr Zahlen wären schön – sozusagen ein Mittelweg zwischen Trittin’scher Detailwut und Habeck’scher Unbestimmtheit. Ohne mehr Geld im Steuersystem werden engagierte Sozialstaatsreformen nicht zu machen sein. Wer den Sozialstaat umbauen will, kommt um die Verteilungsfrage nicht herum. Wirklich mutig wäre es, wenn die Grünen den zahlreichen Vermögenden unter ihren WählerInnen sagen würden, wie privilegiert sie sind.

Umso grotesker wirkt es da, dass sowohl SPDler als auch Grüne beklagen, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht. Eine harte, progressive Besteuerung von Erbschaften, eine Vermögensteuer und höhere Spitzensteuersätze wären wirksame Hebel, um das zu verhindern. Weder SPD noch Grüne sind aber willens, dies in die Hand zu nehmen.

Die SPD hat 2016 in der Großen Koalition eine Erbschaftsteuerreform beschlossen, die die Privilegien superreicher Unternehmerdynastien in absurder Weise schützt. Und die Grünen verweisen zwar darauf, in ihrem Programm eine Vermögensteuer zu fordern (auf Seite 194). Aber sie zeigen kein Engagement, sie auch umzusetzen. Als die Grünen 2013 und 2017 über eine schwarz-grüne und eine Jamaika-Koalition verhandelten, war ihre Steuerpolitik das Erste, was in den Papierkorb wanderte.

Mangelnder Wille zeigt sich auch in der strategischen Planung. Mit der Union werden SPD und Grüne ihre Sozialstaatsreformen nie umsetzen, dies ginge nur in einer rot-rot-grünen Koalition. Eigentlich müssten beide Parteien ein solches Bündnis gezielt vorbereiten. Doch auch hier herrscht Apathie. Die Spitzenleute finden keine Gesprächsebene, zwischen Scholz, Baerbock und einem Bernd Riexinger liegen Welten, nicht nur habituell. Rot-rot-grüne Netzwerke wie die Denkfabrik werkeln ohne größeren Widerhall vor sich hin. SPD und Grüne leiden an einer fortgesetzten Mitte-Fixierung. Ihre Sozialstaatspläne haben deshalb etwas Unernstes. Sie klingen gut, sie könnten sogar der Kern einer neuen Politik jenseits der Groko sein. Aber dass beide Parteien dafür ernsthaft die Konfrontation wagen würden, glaubt man dann doch nicht.

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Ulrich Schulte, Jahrgang 1974, schrieb für die taz bis 2021 über Bundespolitik und Parteien. Er beschäftigte sich vor allem mit der SPD und den Grünen. Schulte arbeitete seit 2003 für die taz. Bevor er 2011 ins Parlamentsbüro wechselte, war er drei Jahre lang Chef des Inlands-Ressorts.

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