Der Hausbesuch: Ein Schnitt für jeden Körper

Aus Ghana kam Victor Ankobea nach Deutschland. In Berlin hat er ein Nähatelier – noch. Das Haus wurde verkauft, sein Laden gekündigt.

Ein dunkelhäutiger Mann in Jeansjacke mit Basecap auf dem Kopf und Metermaß in der Hand steht zischen Nähatelierpuppen, auf denen halb fertige Kleider hängen

Victor Ankobea in seinem Nähatelier im Berliner Bezirk Wedding Foto: Stefanie Loos

Was so einem Leben die Richtung gibt? Herkunft und Schicksal bestimmt. Vielleicht auch Zufall. Oder Tradition. Dazu die Stimme des Vaters, die Wünsche der Mutter und der Eigensinn des Helden. Am Ende kommt raus, dass einer, der in Ghana geboren ist, wie Victor Ankobea, eine Schnitt- und Schneiderwerkstatt in einer Straße im Berliner Stadtteil Wedding hat, die nach einem Kolonialisten in Afrika benannt ist.

Draußen: Eine Kopfsteinpflasterstraße im Afrikanischen Viertel in Berlin. Die Straßen im Kiez sind nach Städten, Flüssen, Bergen, Ländern in den ehemaligen deutschen Kolonien in Afrika benannt. So wollte man den Berlinerinnen und Berlinern, die vor mehr als hundert Jahren dort lebten, die Größe des deutschen Reiches vor Augen führen. Über Jahre war der Kiez einer von vielen im schmuddeligen Wedding, wo heruntergerockte Kneipen, Wettsalons, abgestellter Müll und Hundehaufen auf den Trottoirs das Straßenbild prägten. Dazwischen versuchten einige, wie der Töpfer, die Kerzenmacherin oder auch Vianko-Mode, der Laden des Schnittmeisters Victor Ankobea, ein wenig Schönheit und Eleganz ins Triste zu bringen. Jetzt aber werden die Alten vertrieben.

Drinnen: Auf Schneiderpuppen hängen bunte Kleider mit großen grafischen Mustern, wie sie in Ghana gern getragen werden. Daneben auch welche, die sind mit Prinzessinnenleibchen im Dirndlverschnitt behängt, mit neckischen Sommerkleidern, mit Sakkos oder Hemden. Im Schaufenster stehen eine alte Singer-Nähmaschiene, ein antikes Plätteisen, das mit heißen Kohlen gefüllt werden musste, und andere Antiquitäten aus Schneiderwerkstätten. Alles im Laden ist in Auflösung begriffen, und das ist es ja auch. Ankobeas Mietvertrag ist gekündigt. Zum 31. März soll er raus.

Ankobea: Ob sein Name etwas bedeutet, ob es gar „Schneider“ heißt? „Nein, nein“, widerspricht er. Aber ganz einfach zu übersetzen sei der Name auch nicht. „Ankobea ist der, der, wenn Krieg ist, zurückbleibt und auf das aufpasst, was da ist“, erklärt er. Da das nach einer herausragenden familiären Stellung klingt, gleich noch die Frage, ob er also aus einer Herrschaftsfamilie stamme. „Ja, mein Vater war Häuptling“, sagt er. Er selbst sei aber kein Prinz, weil das Häuptlingswesen über die Mutterlinie vererbt werde.

Die Geschwister: In Kumasi, der zweitgrößten Stadt in Ghana, ist er geboren. Die Familie war groß. „Sehr groß“, sagt er, und beim Aufzählen muss er sich konzentrieren. „Mein Vater war zwei Mal verheiratet. Zwei Brüder sind in Amerika und zwei sind tot.“ Und da sind auch die Zwillingsschwestern, ein anderes Zwillingspaar sei verstorben. Und noch eine Schwester. Überhaupt fünf Schwestern ­leben noch, eine in Amerika, vier in Ghana, „also so ungefähr zehn Kinder waren wir“. Er ist der Zweitälteste.

Das andere Familienkonzept: Nicht nur Vater, Mutter, Kinder gehören zur Familie, auch die Geschwister der Eltern. Er wuchs in einem zweistöckigen Haus auf, unten sein Vater mit Kindern, oben die Tante mit Kindern, und beide Wohnungen waren sein Zuhause. „Die Älteren passen auf die Jüngeren auf.“ Und ja, der älteste Sohn ist schon wichtig, „aber das Lieblingskind meines Vaters war die ältere Schwester“, sagt er. Weil sein Vater sehr gläubig gewesen sei, wurde Ankobea auf eine anglikanische Schule geschickt. Ihm war es recht. „Lesen, Schreiben, Rechnen – für Kinder öffnet das Türen.“ Der Glaube sei ihm übrigens auch geblieben. Aber ob anglikanisch, evangelisch oder katholisch – das interessiere ihn nicht wirklich. „Ich gehe nicht in die Kirche wegen dem Papst oder so. Ich kann auch zu Hause beten.“

Kleider nähen: Ihn faszinierte als Kind der Schneidermeister, der in dem Haus wohnte, wo seine Mutter lebte. Er wollte das auch können, flächige Stoffe in Kleidung zu verwandeln, die dreidimensional ist. Schon als Kind hat er auf der Singer-Nähmaschine der Mutter Sachen genäht. Es kam ihm wie Zauberei vor. „Bei dem Schneider habe ich dann auch eine Ausbildung gemacht.“

Ghana verlassen: In Harburg bei Hamburg lebte ein Onkel von Ankobea. Seine Mutter wollte, dass er zu ihm zieht. „Ich war meines Onkels Liebling“, erzählt er, und dass der Onkel mit einer Frau zusammenlebte, aber keine Kinder hatte, da sei es dann so gewesen, dass er wie deren Kind war. „Der Onkel hat als Mechaniker bei Neoplan gearbeitet.“ Also wenn schon auswandern, beschied die Familie, dann nicht nach Amerika, sondern zu diesem Bruder der Mutter. So kam er 1973 nach Harburg. „Das hat sich so ergeben.“ 17 Jahre alt war er damals. „Hamburg, Harburg, das hat mir gefallen“, sagt er.

Ein Ladengeschäft von außen, ein Mann steht innen im beleuchteten Raum.

Victor Ankobeas Laden in der Lüderitzstraße in Berlin Foto: Stefanie Loos

Schnittmeister werden: Als er bei seinem Onkel wohnte, machte er eine Ausbildung zum Schnitttechniker und Modellmacher. Das sind die Leute in der zweiten Reihe hinter den Designern. „Die Designer skizzieren Modelle, können aber meistens keinen Schnitt“, sagt er. „Deren Ideen machen wir zu Kleidern.“ Ankobea ist noch ganz alte Schule. Wenn er einen Auftrag hat und der Schnitt entwickelt ist, näht er zuerst einmal ein Modell aus Nesselstoff. „Das kann man dann noch korrigieren.“

Wanderjahre: Nach Harburg kommen Pinneberg, Quickborn, Berlin. Er arbeitet in Textilfirmen, die es längst nicht mehr gibt, Laschaud, Enderlei, Hose + Rock Schulz. Er verliebt sich, zieht wegen der Frau nach Berlin, die Mauer stand da noch. Er war mal arbeitslos, hatte einen Unfall, „da war der Arm kaputt“. Als er wieder arbeiten konnte, fing er im KaDeWe an als Verkäufer. Erst in der HiFi-Abteilung, dann als Lagerist in der Glasabteilung, schließlich bei Hemden und Krawatten. Da war er nicht nur Verkäufer sondern auch Übersetzer. Englisch, Deutsch und Twi spricht er. Letzteres seine Muttersprache. Ein schlimmer Schicksalsschlag passierte 1988: Da starb seine Frau. Ob sie seine große Liebe war? „Es gibt Fragen, die muss man nicht beantworten“, erwidert er, „man muss den Dingen ihr Geheimnis lassen.“

Zurück in den gelernten Beruf: „Das Leben schreibt seine eigene Geschichte“, sagt er. Nach dem KaDeWe hat er sich selbstständig gemacht mit Export/Import. Aber der Wunsch, wieder als Schnittmeister zu arbeiten, sei stärker geworden. Vielleicht auch, weil er wieder eine Frau hat, weil er Vater wird von einem Mädchen – und später bekommt er noch eine weitere Tochter. Ende der 90er Jahre macht er eine Weiterbildung in digitaler Schnitttechnik, da sich Computer auch in seinem Beruf etablieren. Aber überzeugt hat es ihn nicht. „Ich liebe das Manuelle“, sagt er. Er will den Schnitt nicht am Bildschirm, sondern am Körper entwickeln. Jeder Körper sei anders. Jemand könne ein Hohlkreuz haben oder einen vorstehenden Bauch, jemand könne einen Apfelpo, einen Knackpo, viel Po oder wenig Po haben und der Schnitt müsse sich dem anpassen, nicht der Körper der vorgegebenen Norm.

Vianko-Moden: 2004 eröffnet er seinen Laden in der Lüderitzstraße im Wedding. „Die Leute, die zu mir kommen, haben einen starken Grund“, sagt er. Eine Kundin etwa sei gehbehindert, die laufe ganz schief. Jetzt habe sie eine neue Prothese und er müsse neue Hosen für sie entwerfen. Eine andere war extrem groß. Niemand kann so leidenschaftlich über große Schulterblätter, breite Rücken, große Busen, extrem starke Gesäße sprechen wie er. „Jeder Mensch ist anders.“

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Die Lüderitzstraße: Er sei verwurzelt im Kiez. Straßenfeste hätte er mitorganisiert, mit Musik und so. Es sei eine Gemeinschaft gewesen mit den anderen Leuten, die hier Läden hätten. Der Streit um Lüderitz, nach dem ist die Straße benannt ist, dauerte Jahrzehnte, er ist in ­Afrika reich geworden – auf betrügerische Art. Jahrelang wurde gerungen, dass die Straße keinen Kolonialisten mehr ehre. Jetzt ist es beschlossene Sache, die Straße soll Cornelius-­Frederiks-Straße heißen. Der führte den Widerstandskampf der Nama im damaligen Deutsch-Südwestafrika, dem heutigen Namibia, an. Aber es regt sich Protest gegen die Umbenennung – zu teuer für die Anwohner, Visitenkarten müssten neu gedruckt ­werden. „Kannste nicht unterschreiben?“, wurde Ankobea gefragt, gegen den neuen Namen, aber er zuckt mit den Schultern. Ihn plagen andere Sorgen: Er muss raus.

Die Nachbarn: Nicht nur er soll raus, der Töpfer ist schon weg, und vorne die Frau Schmidt, ungefähr 80 Jahre sei die, die soll raus. „Bei uns in Afrika, da geht man nicht so mit alten Leuten um“, sagt er. „Da, da ist doch der Schmidt“, er zeigt auf einen Mann, der vor dem Laden vorbeigeht. Er rennt raus: „Schmidt, wie alt ist deine ­Mutter?“ „88, wieso?“ „Weil sie vertrieben wird.“ „Ja, das ist unmenschlich, was die machen“, sagt Schmidt, „die fragen, was verdienste, ah 1.500 Euro. Davon will ich tausend.“ Jetzt sei alles noch schlimmer. Die Wohnungen werden zu Eigentumswohnungen umgebaut.

Eine Schneiderpuppe, die mit einem Kleid bemalt wurde

Eine Schneiderpuppe in Victor Ankobeas Nähatelier Foto: Stefanie Loos

Die Kündigung: Fristgerecht sei sein Laden gekündigt worden, sagt Ankobea. Wie es weitergeht, er weiß es nicht. Ob er doch bleiben kann, weil der Eigentümer einlenkt, es wären ja nur noch ein paar Jahre bis zur Rente? Oder vielleicht kann er auch ein Atelier mit jemandem teilen. Alles ist unklar. „Aber das war es in meinem Leben schon oft“, sagt er.

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