Debatte Missbrauch in der Kirche: Knietief im Schlamm

Die katholische Kirche weiß nicht, wie sie mit den vielen Missbrauchsfällen fertig werden soll. Der Staat muss ihr helfen.

Die Zeichnung einer Bischofsmütze

Der Staat kann und muss das Parallelsystem Kirche unter seine Gewalt bringen Illustration: Katja Gendikova

Als ich im Fernsehen sah, wie grün gewandete Bischöfe im Vatikan einen „Bußgottesdienst“ für kirchliche Missbrauchsopfer abhielten, unpassenderweise im prunküberladenen Apostolischen Palast, musste ich an meine eigene Firmung denken. Unser Dorfpfarrer, ein jovialer, dem Alkohol zugeneigter Mann, hatte für seine Predigt ein volksnahes Sprachbild gewählt. Das heilige Sakrament der Kirche sei wie der Beton beim Hausbau, er härte quasi aus, was sonst nur amorphe Masse bliebe: „Ohne das feste Fundament unseres Glaubens, da hätten wir nur einen Baaz!“, rief er.

Der urbayerische Ausdruck für „Schlamm/Dreck“ erheiterte die Gemeinde, doch der Mann sollte recht behalten: Nach unzähligen Skandalen, in deren Mittelpunkt Kinder missbrauchende Kleriker standen, nach dem von Papst Franziskus einberufenen Missbrauchsgipfel, bei dem die Opfer draußen vor der Tür bleiben mussten, steht die katholische Kirche da wie eine von Wellen umleckte Sandburg: matschig und erbärmlich. Ein Haufen Baaz, dem das innere (Moral-)Gerüst abhandengekommen ist.

Man könnte auch sagen: Der Schlamm, der Dreck der eigenen Verfehlungen läuft der Kirche aus allen Ritzen. Jahrzehntelang hat man Türen und Fenster von innen zugedrückt. Verschweigen und vertuschen, das war bislang die vorherrschende Strategie der Kirchen (auch der evangelischen) im Umgang mit Kindesmissbrauch.

Doch die Mauern des Schweigens halten nicht mehr dicht. Unter dem Druck der Öffentlichkeit hat die Deutsche Bischofskonferenz im Herbst 2018 eine Studie zu Kindesmissbrauch im kirchlichen Rahmen in Auftrag gegeben. Die Ergebnisse waren verheerend: 3.677 Fälle wurden dokumentiert, die Dunkelziffer dürfte sehr viel höher sein, zumal die beteiligten Wissenschaftler keinen direkten Zugang zu Kirchenakten bekamen. Am schlimmsten aber wog der Befund, dass die klerikalen Strukturen den perfekten Rahmen für organisierten Kindesmissbrauch bieten. Aus einem stetig tröpfelnden Rinnsal ist eine Schlammlawine geworden, die droht das ganze Gebäude zum Einsturz zu bringen.

Wie schwach die ehemals mächtigste Organisation der Welt geworden ist, hat sich in Rom offenbart. Nach vielen, bestimmt auch ehrlich gemeinten Worten der Bestürzung und Reue, denen eine merkwürdig vage Rede des Papstes folgte, nach dem hilflosen Auftritt des Missbrauchsbeauftragten der Deutschen Bischofskonferenz Ackermann in der Sonntagabendtalksendung „Anne Will“, ist klar geworden: Die Kirche schafft es nicht alleine.

Willkürherrschaft kleiner Despoten

Sie ist nicht imstande, mit dem Unrat, der jetzt ins Freie quillt, fertig zu werden. Was jetzt ans Tageslicht gekommen ist, ist auch für die, die es lange nicht sehen wollten, einfach zu viel: die Willkürherrschaft von Klerikern, die in ihren Gemeinden herrschen wie kleine Despoten. Ganze Schulen und Pfarreien, in denen Auswüchse von Sadismus, Gewalt und Perversion gedeihen. Alles geduldet vom gutgläubigen Kirchenvolk und vertuscht oder gedeckt von Kirchenoberen, denen der Schutz der Institution wichtiger ist als das Leid der Opfer. So viel Verantwortungslosigkeit, Feigheit und Niedertracht – das kann nicht mal mehr der Papst in Ordnung bringen.

Dieser Papst, das muss auch gesagt werden, ist der erste überhaupt, der sich mit dem Thema sexueller Missbrauch auseinandersetzt. Dass er diesen viertägigen Gipfel in Rom einberufen hat, zeigt sein Engagement in der Sache. Auch wenn viele BeobachterInnen sich konkretere Ergebnisse erhofft haben, ist es allein schon ein mächtiges Signal, wenn sich die Obersten der Weltkirche zusammensetzen, um offen über Verbrechen ihrer Kirche an Kindern und Jugendlichen zu sprechen. Das Eingeständnis, dass nicht nur vereinzelte, sondern sogar viele Männer Gottes in sämtlichen Ecken der Welt ihre Macht ausnutzen, um an den jüngsten der ihnen Anvertrauten Verbrechen zu begehen, ist mutig, denn es ist schmerzhaft, es trifft die Kirche in ihrem Fundament. Und wenn der Papst in seiner Rede hartes Durchgreifen und ein Ende der Vertuschung ankündigt, so ist das durchaus ein Wink an die Täter.

Mehr als das kann man von dieser Kirche aber auch nicht erwarten. Noch immer nicht. In derselben Rede wies Papst Franziskus nämlich auch gleich darauf hin, dass Kindesmissbrauch überall vorkomme. Die Taten in der Kirche verglich er mit Menschenopfern bei heidnischen Ritualen. Was so viel heißt wie: „Wer missbraucht, handelt nicht christlich, so etwas gehört nicht zu uns.“

Abwiegeln und wegschieben – über diese Strategien kommt die Kirche beim Kindesmissbrauch anscheinend nicht heraus. Aber das reicht nicht mehr. Es muss jetzt endlich, nach vielen Jahren der Selbsterforschung und Reuebekundungen, auch mal etwas passieren. Die vielen Missbrauchsopfer haben ein Recht darauf. Da reicht es nicht, darauf hinzuweisen, dass grundlegende Reformen eben ihre Zeit bräuchten, wie Bischof Ackermann das getan hat.

„Wie eine liebende Mutter“

Im Kirchenrecht ist eigentlich schon heute alles enthalten, was es braucht, Täter und Mittäter zur Verantwortung zu ziehen. Das Problem ist nur, dass die Vorschriften zu ungenau sind. Seit den 1980er Jahren basteln Kirchenrechtler an einer großen Reform. So ist man gerade dabei, sich vom Credo der 1980er Jahre abzuwenden, wonach Strafen unzeitgemäß seien. Und man ist auch noch dabei, auf ein „Vademecum“ des Papstes zu warten, eine Anweisung von oben, wie die schon vor Jahren beschlossenen Kinderschutzlinien in der Praxis anzuwenden sind. Dies gilt auch für den 2016 veröffentlichten päpstlichen Erlass namens „Wie eine liebende Mutter“, der es ermöglicht, Bischöfe, die bei Missbrauchsverdacht nicht reagiert oder Fälle vertuscht haben, abzusetzen. Bis heute fehlen dazu Ausführungsbestimmungen. So lange greift der eine Generalvikar mit Personalverantwortung dann eben hart durch – und der andere tut nichts. Beide handeln im Einklang mit kirchlichen Gesetzen.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Wäre die Kirche ein Staat, so würde man hier von Schlamperei, wenn nicht von Staatsversagen sprechen. Die Kirche ist aber kein Staat, sondern ein Gebilde, das, zumindest in Deutschland, dem weltlichen Staat unterstellt ist. Eigentlich. Trennung von Staat und Kirche, das wird nicht besonders konsequent gehandhabt, siehe die staatliche Bezuschussung von Kirchenämtern und Institutionen, siehe das Kirchenprivileg im öffentlich-rechtlichen Rundfunk, siehe kirchlicher Religionsunterricht an staatlichen Schulen, siehe Einziehung der Kirchensteuer durch den Staat.

Aber Trennung von Staat und Kirche, das könnte auch heißen: Wo die Kirche sich nicht aus eigener Kraft helfen kann, muss es der Staat tun. Er kann der Kirche natürlich nicht dabei helfen, die eigene Sexualmoral auf den Prüfstand zu stellen, die Diskriminierung von Frauen auf allen Ebenen zu beenden oder den Zölibat abzuschaffen. Das sind Fragen, mit denen die Kirche sich in gebotener Eile und Gründlichkeit selbst auseinandersetzen muss, wenn sie nicht untergehen will.

Staat muss bei Aufklärung mithelfen

Aber der Staat kann und muss das Parallelsystem Kirche unter seine Gewalt bringen. Er muss, viel konsequenter als bisher, mithelfen, Tatbestände mit dem Strafgesetzbuch aufzuklären. Denn es kann nicht sein, dass in einem funktionierenden Rechtsstaat das Ermitteln der Täterorganisation überlassen wird. Das führt dann, siehe schwammiges Kirchenrecht, dazu, dass der eine Kinder missbrauchende Pfarrer entlassen wird und der andere versetzt wird in die nächste Pfarrei – je nachdem, ob der zuständige Generalvikar Kindesmissbrauch als schlimmes Vergehen oder lässliche Sünde ansieht. Doch auch Pfarrer, Vikare und Bischöfe sind BürgerInnen dieses Staates und vor dem Strafrecht sind alle gleich – das muss endlich und mit Entschiedenheit auch für die Kirche gelten. Vor allem müssen die weltlichen Strafverfolgungsbehörden sich Zugriff auf sämtliche Kirchenakten verschaffen können, ohne Ausnahmen.

Wenn ein Bistum sich der Kooperation mit den Strafverfolgungsbehörden besonders hartnäckig entzieht, könnte der Staat zum Beispiel die Kirchensteuer einbehalten. Und das Geld für die Entschädigung und Therapie von Betroffenen einsetzen. Diese sind bislang allein auf die Gnade der Kirche angewiesen: Die katholische Kirche weigert sich, es Entschädigung zu nennen, sondern lässt den Betroffenen per Scheck eine „Anerkennung des Leids“ von durchschnittlich 5.000 Euro zukommen. Manchmal ist es mehr, manchmal weniger, manchmal gar nichts – und vereinzelt werden an den Scheck noch Schweigeklauseln angeheftet. Auch hier fehlen den Kirchenverantwortlichen offensichtlich klare Vorgaben. Helfen wir ihnen mit der Klarheit des Rechtsstaats aus ihrem Schlamassel! Damit sie sich um dringlichere Aufgaben kümmern können: ihr Moralgerüst vom Schlamm zu reinigen und wieder aufrecht vom Glauben predigen können.

Als mein Pfarrer übrigens damals mit unserer Firmpredigt fertig war, sah ich, dass sich meine Banknachbarin vor Lachen bog: „Der soll mal nicht so viel vom Baaz reden, wo er doch selbst dauernd reinfällt“, kicherte sie. Unser Dorfpfarrer wurde nachts des Öfteren besoffen vom Wirt in der Schubkarre heimtransportiert. Dem Vernehmen nach war er dabei öfter mal höchst unwürdig in den Schlamm gekippt. Er wurde dann irgendwann versetzt.

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Jahrgang 1974, geboren in Wasserburg am Inn, schreibt seit 2005 für die taz über Kultur- und Gesellschaftsthemen. Von 2016 bis 2021 leitete sie das Meinungsressort der taz. 2020 erschien ihr Buch "Der ganz normale Missbrauch. Wie sich sexuelle Gewalt gegen Kinder bekämpfen lässt" im CH.Links Verlag.

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