Altersvorsorge für Selbstständige: Digital, flexibel – und im Alter verarmt

Drei Millionen Freiberufler haben keine Alterssicherung. Arbeitsminister Hubertus Heil will das jetzt ändern. Selbstständige reagieren meist skeptisch.

Frauen in einem Büro vor ihren aufgeklappten Macbooks. An der Wand steht Wonder Womens Coworking.

Nicht alle Frauen im „Wonder“ haben Vertrauen in die SPD Foto: Amélie Losier

BERLIN taz | Der Coworking Space „Wonder“ im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg sieht auf den ersten Blick genauso aus, wie man sich solch einen Ort vorstellt: modern eingerichtet, Möbel wie aus dem Designerkatalog, auf den Tischen frische Blumen und Schalen mit Obst. Zu kaufen gibt es Fairtrade-Limonaden und Snacks, an den Wänden hängen Bilder mit Sprüchen wie „Live.Laugh.Love.“.

Es ist 9.30 Uhr an einem Dienstagmorgen, noch ist kaum jemand da. Die Selbstständigen arbeiten flexibel – die meisten von ihnen werden erst gegen Mittag eintreffen und dafür bis abends vor ihren Macbooks sitzen bleiben. Lediglich in einem Punkt unterscheidet sich dieser Coworking Space von den ungefähr 100 anderen, die in den vergangenen Jahren in Berlin eröffnet wurden: Hier arbeiten nur Frauen.

Die Gründerin Shaghayegh Karioon stellt sich als Shari vor. Die Idee, einen rein weiblichen Space zu eröffnen, sei ihr schon vor Jahren gekommen – „rein zufällig“, wie sie lachend erzählt. 2018 folgte die Eröffnung. Die Frauen, die jetzt im „Wonder“ arbeiten, sind Teil einer neuen Arbeitswelt: flexibel und digital.

Vor wenigen Tagen kündigte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) für Selbstständige ein neues Gesetz an: Sie sollen künftig zur Altersvorsorge verpflichtet werden, privat oder über die gesetzliche Rentenversicherung. Drei Millionen Selbstständige seien momentan nicht abgesichert, sagte Heil der Rheinischen Post. Auch sie hätten nach einem Leben harter Arbeit eine Alterssicherung verdient. Es gehe um „eine große sozialpolitische Reform“.

Selbstständige gegen Lebensrisiken absichern

Schon im Februar hatte SPD-Chefin Andrea Nahles angekündigt, Erwerbstätige auch in Zeiten des digitalen Wandels gegen Lebensrisiken wie Arbeitslosigkeit, Krankheit, Pflege oder unzureichende Altersvorsorge absichern zu wollen. Die Zukunft der Arbeit und des Sozialstaats wolle die SPD zu einem politischen Schwerpunkt machen. Schlagwort: „Arbeit 4.0“. Dabei würden auch die Selbstständigen schärfer in den Fokus genommen.

Das Konzept der Grundrente, das Arbeitsminister Heil im gleichen Monat vorstellte, kommt recht klassisch daher. Demnach soll jede*r, der oder die mindestens 35 Jahre in die gesetzlichen Rentenkassen eingezahlt hat, Anrecht auf einen Rentenzuschlag haben. Davon ausgenommen sind jedoch bislang Selbstständige und Freelancer wie Shari Karioon, die sich komplett eigenverantwortlich um ihre Sozialversicherung kümmern müssen.

Der Regelbeitragssatz der Rentenversicherung von 566,37 Euro in den alten und 501,27 Euro in den neuen Bundesländern ist für viele zu hoch. Auch Karioon hat erst vor Kurzem eine Rentenversicherung abgeschlossen. Jahrelang schob sie diesen Schritt vor sich her. „Eigentlich blöd“, erzählt sie und greift schulterzuckend nach ihrer Kaffeetasse. „Aber diese Zusatzkosten wollte ich zu Beginn meiner Selbstständigkeit nicht haben.“ Nun schloss Karioon private Versicherungen ab. Denn ohne privat vorzusorgen, davon ist sie überzeugt, sei die finanzielle Absicherung im Alter für Freiberufler*innen wie sie gefährdet.

Sozialversicherung – eine Herausforderung

Laut Selbstständigen-Report 2018 sehen 85 Prozent der Selbstständigen die fehlende soziale Absicherung als Problem. Der Report wird vom Verband der Gründer und Selbstständigen Deutschland herausgegeben. Ebenfalls 85 Prozent fühlen sich von der Politik bisher nicht oder wenig respektiert.

Im Koalitionsvertrag einigten sich die SPD und Union auf eine gesetzliche Alterssicherung für Selbstständige. Bundesarbeits-minister Heil will, dass die Betroffenen Mitglied in einem Versorgungswerk werden, wie etwa Ärzte und Anwälte, sich durch die Rürup-Rente absichern oder eben durch die gesetzliche Rentenversicherung. Bis Jahresende soll der Gesetzentwurf vorliegen. Vertreter anderer Parteien und Sozialverbände signalisierten bereits Zustimmung zu dem Plan.

Birgit Wehinger, die sich als freie Texterin und Textberatin im „Wonder“ eingemietet hat, bleibt dagegen skeptisch: „Die Rente ist seit Jahren Thema der Politik, aber nichts hat sich bisher geändert.“ Seit der Agenda 2010 hätten die Sozialdemokrat*innen so sehr an Glaubwürdigkeit verloren, dass sie entsprechende Vorschläge nicht mehr ernst nehmen könne. Aber ja: Die Sozialversicherung sei auch für sie eine Herausforderung, sagt Wehinger und schiebt ihre Brille zurecht. Eine Rentenversicherung komme für sie aber erst bei einer stabilen Auftragslage infrage.

Grüne und FDP unter Freelancern beliebt

Etwas mehr erhofft sich Shari Karioon von den Plänen der SPD. Viel zu lange habe sich die Partei nur um sich selbst gedreht und dabei ihre Kernthemen „Arbeit und Rente“ vergessen. Der jetzige Weg führe in die richtige Richtung.

So richtig viel Vertrauen setzt aber keine der Frauen im „Wonder“ in die SPD. Viele wählen dort eher die Grünen oder die FDP, erzählen sie im persönlichen Gespräch. Damit sind sie unter Selbstständigen nicht allein: Gut 10 Prozent würden laut Selbstständigen-Report 2018 den Sozialdemokrat*innen ihre Stimme geben. Für die Positionen der Grünen begeistert sich indes ein Viertel der Befragten, die FDP kommt ähnlich gut an.

Als Antwort auf die Grundrente der SPD hat die FDP ein Modell der Basisrente vorgelegt, welches stärker als die Sozialdemokraten auf die Bedürfnisse von Selbstständigen eingeht. Johannes Vogel, arbeits- und rentenpolitischer Sprecher der FDP, sagt, dass Selbstständige die Freiheit haben sollten, die Form ihrer Vorsorge selbst zu wählen. Dafür bräuchte es etwa Übergangsfristen, „um Gründerinnen und Gründer in der Anfangszeit nicht zusätzlich zu belasten“.

Mutterschutz in der Selbständigkeit

Dieser Vorschlag kommt im Berliner Coworking Space gut an – mit Vorbehalt. Inzwischen hat sich das „Wonder“ gefüllt, fast alle Arbeitsplätze sind belegt. Ein paar Meter von Birgit Wehingers Schreibtisch entfernt sind die privaten Büros, die von kleineren Unternehmen und Start-ups angemietet werden können. Hier sitzt Michaela Krause mit ihren Angestellten der Kommunikations-beratung „Laika Berlin“. Von der Politik, erzählt sie lachend, fühlt sie sich bisher vor allem steuerlich wahrgenommen.

Den Vorschlag der FDP, Übergangsfristen für Selbstständige einzuführen, hält Krause mittelfristig für sinnvoll. Modelle für Einzahlungen in die Sozialversicherungen müssten ihrer Meinung nach generell flexibler werden, sodass auch zeitweise niedrigere Beiträge oder Einzahlpausen bei schwieriger Auftragslage möglich seien. Auf lange Sicht schätzt sie jedoch sowohl die Vorschläge von SPD als auch von der FDP als nicht wirklich relevant ein: „Wer weiß, ob die gesetzliche Rente in ein paar Jahren so noch tragbar ist.“

Shari Karioon stimmt Krause zu. Heute wird sie schon gegen 14 Uhr Feierabend machen. Die Mutter einer kleinen Tochter hat aber noch einen anderen Wunsch: Sie hofft, dass die Regierung auch Konzepte für Mutterschutz und Elternzeit in der Selbstständigkeit entwickelt. Gerade für Frauen wäre das wichtig: „Im Alter zwischen 30 bis 40 Jahre gründet man – und bekommt Kinder. Wer selbstständig ist, hat aber kaum Anrecht auf Mutterschutz oder die Befreiung von Krankenkassenbeiträgen während der Elternzeit.“ Viele Frauen würden sich also zwischen Firmengründung oder Kindern entscheiden müssen, weil sie beides nicht miteinander verbinden könnten.

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