Kommentar Kindesmissbrauch in der DDR: Traumata bis in die Gegenwart

Ein Staat, der seine Bürger*innen bis unter die Bettdecke bespitzelte, will von sexuellem Missbrauch nichts gewusst haben. Und es geht noch absurder.

Der Schatten eines Mannes neben Gitterfenstern

Der ehemalige Jugendwerkhof Torgau gilt als eines der schlimmsten Folterheime in der DDR Foto: dpa

Was nicht sein durfte, das gab es in der DDR nicht: keine Kriminalität, keine Morde, keine sexuelle Gewalt. So die offizielle Diktion der einstigen DDR-Politik. Real sah es anders aus: Raub, Totschlag, Morde gab es selbstredend. Ebenso massenhaft sexuelle Gewalt, vor allem an Kindern und Jugendlichen. Doch im Gegensatz zu den anderen „menschlichen Verfehlungen“ wurde über sexuellen Kindesmissbrauch in der DDR vehement geschwiegen.

Viele Opfer können bis heute nicht darüber reden, so heftig sind sie traumatisiert. Die Tabuisierung des Themas hielt länger und stärker an als in der Bundesrepublik, wie eine aktuelle Studie der Kommission zur Aufarbeitung des sexuellen Kindesmissbrauchs zeigt.

Das Schweigen und Verschweigen hatte System: Die „allseits gebildete sozialistische Persönlichkeit“ war höchstes politisches Erziehungsziel, die „heile Familie“ heiliges Gut in einer vermeintlich konfliktfreien Gesellschaft. Sexuelle Gewalt an Kindern durch Eltern, ErzieherInnen, HeimmitarbeiterInnen kam in diesem System nicht vor, durfte nicht vorkommen.

Es galt das unumstößliche Verhaltensgesetz: Alles, was zu Hause passiert, hat draußen niemand zu erfahren. Anderenfalls drohten Sanktionen – sowohl zu Hause als auch seitens der Gesellschaft. Perfider kann man einen Missstand und ein enormes Machtgefälle nicht verleugnen. Absurder kann es kaum werden: Ein Staat, der seine Menschen bis unter die Bettdecke bespitzelt, will von sexuellem Missbrauch, von Gewalt in den Familien und in staatlichen Einrichtungen nichts gewusst haben?

Torgau, das Guantánamo für Kinder

Doch, doch, es geht noch absurder: Kinder und Jugendliche, die infolge von physischer und psychischer Gewalt „Verhaltensauffälligkeiten“ zeigten, wurden vielfach aus den Familien herausgenommen und in Heime gesteckt – und dort häufig noch übler missbraucht. Wagten sie zu erzählen, was sie dort erlebten, hörten sie solche Sätze: „Die kommt aus einer asozialen Familie, die lügt doch sowieso.“

So etwas ist wohl nur in einer weitgehend geschlossenen Gesellschaft, wie die DDR eine war, möglich. Kinder und Jugendliche wurden für grausame Taten an ihnen selbst – begangen von Müttern, Vätern, Staatsangestellten – zusätzlich bestraft. In der Regel mit „lebenslänglich“, wie sie selbst sagen. Unabhängig davon, dass viele von ihnen bis heute nicht über die sexuelle Gewalt reden können – so stark prägt das Tabu sie als Opfer –, leiden sie an Traumata, körperlichen Schäden, sozialer Isolation.

Manche widerspenstige Opfer landeten in Jugendwerkhöfen, die „verwahrloste“ Kinder und Jugendliche „zurückführen sollten in den Schoß der Gesellschaft“. Die Heime waren wie Burgen, zu denen Unberechtigte keinen Zutritt hatten, die Insassen waren häufig als „kriminelle Elemente“ stigmatisiert.

Die dennoch aus den Werkhöfen nach außen dringenden Grausamkeiten lösten so heftigen Schrecken aus, dass allein das Nennen von Ortsnamen wie Torgau, wo sich das wohl schrecklichste dieser Folterheime befand, für Unruhe sorgte. Torgau, das war das Guantánamo für Kinder und Jugendliche in der DDR. Die Opfer haben jede Offenheit und Entschädigung verdient. Die neue Studie kann ein Anfang sein.

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Ressortleiterin Meinung. Zuvor Ressortleiterin taz.de / Regie, Gender-Redakteurin der taz und stellvertretende Ressortleiterin taz-Inland. Dazwischen Chefredakteurin der Wochenzeitung "Der Freitag". Amtierende Vize-DDR-Meisterin im Rennrodeln der Sportjournalist:innen. Autorin zahlreicher Bücher, zuletzt: "Und er wird es immer wieder tun" über Partnerschaftsgewalt.

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