Im Rücken die Ruinen von Europa

LITERATURFESTIVAL I Die Finanzkrise war immer schon da und bedrängte in Berlin die Dichter in der Reihe „Fokus: Europe Now“

Europa finde eh schon statt – wie man an dem Easyjetset und der Arbeitsmigration erkennen könne

VON RENÉ HAMANN

Ob man sich denn vorstellen könne, dass irgendwo dort draußen in Berlin gerade gleichzeitig eine Abordnung Finanzpolitiker zusammensitzt und über die Rolle der Kultur und speziell der Literatur in der derzeitigen Krise Europas debattiert? Gelächter im Publikum. Wohl kaum. Warum man nun als Dichter die ganze Zeit über die Situation in der EU in Zeiten der Finanzkrise sprechen müsste, fragte sich einer dieser europäischen Dichter auf dem Podium, er sei doch schließlich aus eigenem Interesse hier und nicht im Auftrag seines Landes.

„Besuchen Sie Europa – solange es noch steht“ war nun nicht das Motto dieser Extrareihe beim diesjährigen internationalen Literaturfestival. Es hieß anders: „Fokus: Europe Now“, so weit gefasst wie Europa selbst. Natürlich ging es in den Gesprächen, den Vorträgen und Lesungen hauptsächlich um das Verhältnis des geschriebenen Worts und der ausführenden Kräfte zu Europa. Und, sehr zum Missvergnügen der Dichter, die sich zur „European Poetry Night“ getroffen hatten und einen Tag später „zum Stand der Lyrik in Europa“ reden sollten: Die Finanzkrise, die Krise des Euro, waren immer schon da. Und warteten. Auf Bezüge.

Schon im eröffnenden Vortrag Karl Schlögels, Professor von der deutsch-polnischen Grenze, war es genau darum gegangen: um die Grenzen und Übergänge, die Transaktionen besonders innerhalb Europas. Im Zuge dessen schlug Schlögel die Buslinie „Eurolines“ für den Aachener Karlspreis vor, der „für Verdienste um die europäische Einigung“ verliehen wird, und erklärte den Eurovision Song Contest oder die Fußballeuropameisterschaft für wesentlich förderlicher für eine Idee Europas als dergleichen Hochkulturversuche. Europa finde andererseits eh schon statt – wie man am Easyjetset, an Arbeitsmigration und den umherziehenden Erasmusstudenten erkennen könne. Und dieses gleichwohl kapitalistische Europa wäre ein anderes, hätte auch andere Grenzen, als sich das die Bürokraten in Brüssel so vorstellten.

Übersetzen, fortlaufend

Für die europäische Idee, fanden im anschließenden Panel drei Schriftsteller mit diversen europäischen Hintergründen, wäre sowieso die Idee der „translation“, der Übersetzung, wesentlicher. Eine gemeinsame Sprache hat Europa nicht, sieht man einmal von Englisch als Welthandelssprache ab, also müsse immer und immer wieder übersetzt werden, und zwar fortlaufend. Gerade wenn, so die zitierte Idee, die gemeinsame Sprache der Völker, pathetisch ausgedrückt, die Sprache der Poesie sei.

Seltsam war das schon, das alles. Der ganze Zirkus, die ganzen Widersprüche. So kam es vor, dass vier des Deutschen mächtige Menschen vorn saßen und auf Englisch miteinander redeten, weil das so vereinbart worden war. Während sich die osteuropäischen Dichter damit auseinandersetzen, dass alles Geld schmutziges Geld ist, da nämlich ihre Betriebe und Industrien oligarchisch und mafiös strukturiert wären, kommen deutsche Kulturveranstalter in Konflikte, wenn sie von den falschen Sponsoren unterstützt werden. Während draußen die weißen Limousinen eines tschechischen Automobilherstellers warteten.

Überhaupt war das Festival wie stets sehr engagiert geführt, aber nicht immer rund. Zu den Events rund um die großen Namen strömten die Menschen in das Haus der Berliner Festspiele, zu dieser „Fokus Europa“-Reihe erschienen manchmal kaum mehr Menschen als auf den Podien saßen. Vielleicht leidet das Internationale Literaturfestival Berlin (ilb) an selbst gemachter Trägheit – zu viel Programm, zu viel Auswahl, das Publikum bleibt bei kleineren Veranstaltungen eher fern. Das ilb ist eben nicht die Berlinale.

Und die Fragen rund um „europäische Identitäten“ und „literarische Rettungsschirme“ in Zeiten der Finanzkrise waren einfach auch zu groß gestellt. „Vielleicht wissen nur Amerikaner, was europäische Literatur ist“, mutmaßte der irische Dichter Matt Sweeney ganz treffend. Nur eins schien klar: „Europa ist immer besser als zu Hause“ – aber das war schon ein Statement von jenseits der EU, nämlich eins aus der Ukraine.

Selbst als es um die Frage „Religion und Gesellschaft ging“ – Matthias Matusseks knallrote Hosenträger hatten dabei einen imposanten Auftritt –, konnten sich die Teilnehmenden nicht einig werden. Härtere Blasphemiegesetze oder deutlicheres Eintreten für die Freiheit des Worts? Eine Verteidigung des Säkularen, der „gottindifferenten“ Gesellschaft oder vorauseilende Zensur im Zeichen möglicher Gewalt? Aber vielleicht ist Europa genau das: eine Vielzahl. Das Modewort lautet Diversität.

Diversität um ihrer selbst willen kann eben in die Beliebigkeit führen, das war an diesem Programm auch abzulesen. „Ich war Hamlet. Ich stand an der Küste und redete mit der Brandung BLABLA, im Rücken die Ruinen von Europa“, so fängt bekanntlich Heiner Müllers „Hamletmaschine“ an. Wäre auch ein gutes Motto gewesen.