Masern-Ausbruch im Kreis Hildesheim: Keine Schule ohne Masern-Impfung?

In einer Schule müssen Kinder der Schule fernbleiben, die nicht gegen Masern geimpft sind. Notwendige Prävention – oder die Tyrannei der Masse? Ein Pro und Contra.

Ein Tropfen hängt an einer Kanüle

Pieks – und schon geht die Schule wieder los Foto: dpa

Ja,

es ist absolut richtig, dass die Oskar-Schindler-Gesamtschule in Hildesheim ungeimpften SchülerInnen und Lehrkräften den Zugang verwehrt. Mehr noch: Dieser Schritt ist zu begrüßen. Vor wenigen Tagen waren an der Schule Masern ausgebrochen – eine Krankheit, die in Europa nach dem Willen der WHO eigentlich bis 2020 hätte ausgerottet sein sollen.

Ein Ziel, das absehbar verfehlt wird, weil Maserninfektionen in Europa wieder ansteigen – auch wegen Impfmuffeln und ImpfgegnerInnen. In Niedersachsen kam es 2018 zu 18 Masernfällen, 2019 bereits zu 33 – 24 davon im Kreis Hildesheim.

Masern sind hoch ansteckend, das Virus wird schon beim Sprechen übertragen. Kommt es zu Komplikationen wie einer Gehirnentzündung, ist die Krankheit lebensgefährlich.

Für die Schule in Hildesheim galt es daher, Rechte gegeneinander abzuwägen: das Recht auf Bildung gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Es geht nicht um eine Impfpflicht durch die Hintertür, sondern um einen Schutz vor Infektionen in einem konkreten Fall – gedeckt nach dem Infektionsschutzgesetz.

Es geht um den Schutz von Unbeteiligten

Dabei ist es einerseits richtig, die Kinder, deren Eltern sich nicht um deren Impfung bemüht haben, vor einer Masern-Ansteckung zu bewahren – ja: sie zu ihrem Glück zu zwingen. Andererseits geht es aber auch um den Schutz von völlig Unbeteiligten. Denn Masern haben eine Inkubationszeit von über einer Woche und sind bereits mehrere Tage lang ansteckend, bevor der erste Hautausschlag auftritt. Ungeimpfte Kinder oder LehrerInnen könnten sich also Masern in der Schule holen und tagelang noch fröhlich herumlaufen, während sie andere anstecken.

Es wäre verantwortungslos, das zuzulassen. Denn diese Gefahr betrifft eben auch diejenigen, die nicht freiwillig auf eine Impfung verzichtet haben, sondern denen dies aus medizinischen Gründen verwehrt bleibt. Im Falle des Lebendimpfstoffes von Masern sind das zum Beispiel alle Säuglinge mindestens in den ersten sechs Monaten. Ihnen hilft nur der sogenannte „Herdenschutz“, wenn rund 95 Prozent der Menschen geimpft sind. Anders als in Skandinavien, ist die Masernimpfquote in Deutschland aber noch ungenügend.

Zu begrüßen ist die strenge Maßnahme der Schule daher auch als ein Signal an die notorischen Impfgegner­Innen, die mit ihrer asozialen und anti-aufklärerischen Haltung Menschen in Gefahr bringen.

Jean-Philipp Baeck

Nein,

Masernimpfungen sind zwar sinnvoll. Aber selbstredend sollten Kinder nicht vom Unterricht ausgeschlossen werden, bloß weil sie keine Masernimpfung haben – weder in Hildesheim, noch in Bremen. Dort ist nämlich, inspiriert – oder eher angesteckt? – durch die südostniedersächsischen Masernfälle der Vorstandsvorsitzende der Kassenärztlichen Vereinigung, Joachim Herrmann, vorgeprescht und fordert Ungeimpften den Zugang zu Kitas, Schulen, Uni und sogar Arztpraxen zu verweigern.

So ein Spaßvogel! Wo sollen die sich denn dann impfen lassen? Nein, angesichts von null Bremer Fällen im laufenden und nur zweien im vergangenen Jahr kann es sich bei diesem präventivpanischen Vorstoß nur um einen Witz gehandelt haben, denn, wenn er schon bei so günstiger Infektionslage greifen soll, wann könnte der Unterrichtsausschluss für ungeimpfte Kinder enden?

Wahr ist: Im Kreis Hildesheim wird anlassbezogen gehandelt. Bloß was soll das Ziel der Maßnahme sein? Wird man die Sicherheit der geimpften Mitschüler*innen und Lehrkräfte relevant erhöhen? Sind die nicht durch die Impfung bereits immun? Hilft es der Allgemeinheit, wenn die von Kitabesuch und Unterricht ausgeschlossenen ungeimpften Kinder die Viren auf offener Straße, im Supermarkt oder auf dem Spielplatz verbreiten? Sollte man sie nicht besser wegsperren? Für immer? Oder doch wenigstens für 35 Tage?

Mithilfe von Ängsten werden Bürgerrechte verstümmelt

Diese Vorbeugehaft-Dauer soll ja in Niedersachsens Polizeigesetz, nicht im Gesundheitsrecht, festgeschrieben werden. Aber das Denken ist dasselbe: Es folgt dem Trend, mithilfe von Ängsten die Menschen- und Bürgerrechte zu verstümmeln – am liebsten die Rechte jener, die der Durchschnitt als Andere deutet, Minderheiten also.

Fakten braucht das durchschnittliche Denken nicht: Auch wenn die Masernimpfquote laut Robert Koch Institut gut ist – 97 Prozent der Erstklässler sind gegen Masern geimpft – ist es ein Leichtes, die verschwindend kleine Gruppe der Impfgegner*innen zur Gefahr aufzupimpen. Und schon fragt keiner mehr, ob es gut ist, deren Kindern durch Beschneidung ihres Rechts auf Bildung heimzuzahlen, dass ihre Eltern einer skurrilen Meinung anhängen.

Die Demokratietheorie nennt ein solches Vorgehen „Tyrannei der Masse“. Die moralische Bewertung ist älter und fällt noch leichter: Es ist schäbig.

Benno Schirrmeister

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