Nahrung in Laos: Die Grenzen des Essbaren

Rohe Vogelspinnen, Ratte, Salat aus lebenden Shrimps – all das kann man in Laos essen. Wer entscheidet, was normal, gesund und ethisch okay ist?

Eine Hand hält eine gro0e Vogelspinne fest

Schmeckt gegrillt besser als roh, findet unser Autor: Vogelspinne Foto: Andrew Müller

Es ist für mich durchaus eine Überwindung, die große, haarige Spinne zu essen. Zumal roh. Aber die Dorfälteste Mae Yai sagt, dass ihr die Vogelspinnen so am besten schmecken. Also will ich es auch probieren.

Als wir zunächst die Beine des Tieres in den Mund nehmen, fotografieren uns die mitgereisten Ethnologie-Studierenden aus Bangkok wie wild. Einige von ihnen reagieren viel angewiderter als ich, der deutsche Soziologiestudent. Vielleicht wollen sie sich auch abgrenzen von den „primitiven“ Sitten der thailändischen Landbevölkerung.

So lässig wie Mae Yai bin aber auch ich keineswegs, und rohe Vogelspinne nehme ich nicht in die Liste meiner Lieblingsspeisen auf. Gegrillt hingegen schmeckt sie mir vorzüglich. Der herzhafte Hinterleib ist mehlig-weich, die Beine sind knusprig und der Vorderkörper enthält helles Fleisch, das mich an Hummer erinnert.

Vor einigen Jahren reiste ich nach Laos und ins kulturell verwandte Nordostthailand, um allerlei Insekten und anderes für mich Ungewohntes zu essen – im Namen der Wissenschaft, ich erforschte Nahrungstabus für meine Bachelorarbeit.

Ekel kommt bei der Ratte

Als Westeuropäer kann man den Eindruck bekommen, dass die Leute hier vor nichts zurückschrecken. Von gegrillten Fischen isst man oft als erstes die intensiv und etwas schlammig schmeckenden Augen. Innereien wie Magenwand oder auch geronnenes Blut können in vielen Nudelsuppen „auftauchen“. Daran gewöhne ich mich relativ schnell.

Bitter schmeckt phia. „Young shit from bull“ sei das, erklärt ein Laote: Es handelt sich wirklich um Dünndarminhalt vom Rind

Als ich aber eine Ratte essen will, meldet sich mein ansozialisierter Ekel zurück, obwohl ich weiß, dass nur „saubere“, in freier Natur aufgewachsene Tiere gegessen werden. Am Ende freundet sich mein Gaumen halbwegs mit der Ratte an. Was mich eher stört, ist das bittere Gemüse, in dem wir sie gekocht haben.

Ebenfalls bitter schmeckt phia. Als ein junger Laote mir und einem Kumpel diese bräunlich-grüne Sauce anbietet, probieren wir neugierig und fragen, was das ist. „Young shit from bull“, antwortet er. Wir verstehen nicht gleich, weil es für uns etwas Undenkbares ist: Es handelt sich tatsächlich um Dünndarminhalt vom Rind.

Dancing shrimps direkt aus dem Fluss

Selbst lebendige Tiere werden gegessen. Nördlich der Hauptstadt Vientiane gibt es ein Ausflugslokal, dessen Sitzflächen sich auf Booten inmitten eines Flusses befinden. Man kann dort kung ten bestellen. Als ich die Glocke vorsichtig vom Teller hebe, springen plötzlich kleine Garnelen heraus und zappeln auf dem Tisch umher. Die fast durchsichtigen „dancing shrimps“ werden als Salat mit frischen Kräutern, scharfem Chili, Glutamat und Limettensaft serviert. Kein Wunder, dass sie so panisch sind – das muss ganz schön brennen. Schnell wieder die Glocke drauf.

Die Sprungkraft lässt mit der Zeit nach, bis der feurig-frische Salat schließlich zur Ruhe kommt. Endlich kann ich entspannt essen – rein geschmacklich sehr zu empfehlen. Wenn man es schafft, die Grausamkeit der Szene zu verdrängen. Auch die rohen Vogelspinnen tötet man übrigens nicht richtig, sondern reißt ihnen nur die Giftklauen heraus. Sie zucken teilweise noch beim Verzehr.

Der Blick auf ferne Länder lädt natürlich zum Exotisieren und Moralisieren ein. Doch wer entscheidet eigentlich, was normal, gesund und ethisch okay ist – und nach welchen Kriterien?

Kaum ein Nahrungstabu ist universell gültig

Forscher*innen haben versucht, die krassen Unterschiede zwischen den Esskulturen theoretisch zu erklären. Von ordinärem Kannibalismus mal abgesehen, gibt es kaum ein Nahrungstabu, das universell ist. Gleichzeitig aber wird nirgendwo alles verspeist, was dem Grunde nach essbar ist. Auch in Thailand und Laos gibt es Grenzen. Beispielsweise sind besonders bedrohte Arten wie Tiger und Elefanten zunehmend tabu. Viele Laot*innen finden Käse ekelhaft: Für sie ist das schlecht gewordene Milch.

Der Kulturmaterialist Marvin Harris behauptet, langfristig formten sich Ernährungsregeln aufgrund ökonomischer und ökologischer Notwendigkeiten. So erklärt er die Heiligkeit von Kühen in Indien damit, dass die Überbevölkerung dort langfristig zum sparsameren Vegetarismus zwingt.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Essen Laot*innen demnach Innereien, Fledermäuse und Insekten, weil sie arm sind? So wie man auch in Deutschland früher jeden Teil eines Tieres verwertet und auch Insekten und Hund gegessen hat? Ökonomische Faktoren spielen durchaus eine Rolle. Die Erzählung von den „armen Allesfressern“ ist aber auch ein westliches Vorurteil. Zwar leisten Ameisen, Wasserwanzen oder Ratten ihren Beitrag zur Nahrungssicherheit in Laos. Aber vor allem schmecken sie den Leuten einfach. Teilweise handelt es sich sogar um teure Delikatessen.

Strukturalisten wie Claude Levi-Strauss meinen, dass jede Kultur ihr eigenes symbolisches Ordnungssystem hat, von dem sich die jeweiligen Ernährungsregeln ableiten. Edmund Leach argumentiert, dass uns manche Tiere zu verbunden sind, andere zu fremd – und beide deswegen tabu. Um als essbar zu gelten, muss ein Lebewesen also die richtige „gefühlte Distanz“ zum Menschen haben. Und die ist überall anders: Bei uns ist ein Meerschweinchen niedliches Haustier, in Peru normales Fleisch.

Mistkäfer isst keiner mehr

Sind Nahrungstabus letztlich willkürlich? Das wäre wohl auch zu einfach. Kultur und materielle Realität scheinen eher in einem sich stetig wandelnden Wechselverhältnis zu stehen. So ist Mae Yai die einzige in der Gegend, die Vogelspinnen noch roh isst. Und sie erzählt, wie sie in Kindertagen Mistkäfer aß, die von menschlichem Kot leben. Toiletten gab es noch nicht, man ging in den Wald und gestattete sich dabei gelegentlich einen Snack. Geschadet hat ihr das nicht. Aber die thailändischen Ethnolog*innen und Mae Yais Enkel finden die Vorstellung genauso abstoßend wie ich.

Der Strukturalist Edmund Leach sagt, dass uns manche Tiere zu verbunden sind, andere zu fremd – und beide deswegen tabu. Um als essbar zu gelten, muss ein Lebewesen die richtige „gefühlte Distanz“ haben

Immer mehr Menschen in dem Dorf essen Spinnen, Mistkäfer oder andere Insekten heute gar nicht mehr. In Thailand gibt es inzwischen an fast jeder Ecke Supermärkte, Fast Food wird immer beliebter. Das kann man positiv oder auch kritisch sehen. Einerseits mag man begrüßen, dass sich moderne Normen und Hygienestandards durchsetzen. Andererseits wird beklagt, dass die traditionelle Esskultur verschwindet. Dabei ist Nahrungsglobalisierung nichts Neues: Chili, für viele Inbegriff asiatischer Küche, wurde erst vor ein paar Hundert Jahren aus Südamerika importiert.

Eines habe ich bei meinen Forschungen auf jeden Fall gelernt: Wenn ich etwas ekelhaft oder skurril finde, wirft das vor allem ein Licht auf meine eigene Esskultur. Denn auch die steckt voller Widersprüche und Tabus. Dass in Deutschland Schweine in rauen Mengen gegessen werden, der Verzehr von Hundefleisch aber illegal ist, kann man kaum als logisch bezeichnen.

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