Immer schön weiternuckeln

ZAUBERBERG In Angelika Meiers Roman „Heimlich, heimlich mich vergiss“ vermischen sich Traum und Wirklichkeit, yogatreibende Cyborgs leben in einer Klinik jenseits der Normalsterblichen

Die Systemsteuerung des Doktors muss vollends außer Rand und Band geraten sein

Sie haben mir gar nichts zu sagen, Sie Natter, Sie nichts von einem Arzt!“ Doktor Franz von Stern muss sich von seinen Patienten viel gefallen lassen. Sie nennen ihn Hurensohn, Satanssonde, Sausack – und Papa. Daran hat er sich gewöhnt. Auch daran, den Patienten zur Beruhigung eine Flasche mit Rhabarbersaft und Opium zu geben, an der sie dann selig nuckeln. Nur daran, den Eigenbericht über seine Arbeit schreiben zu müssen, daran kann er sich nicht gewöhnen. Kaum hat er das Wort „Ich“ getippt, lenkt ihn wieder etwas ab.

Im Prinzip ist Angelika Meiers Roman „Heimlich, heimlich mich vergiss“ die Geschichte einer Schreibblockade. Aber er ist noch viel mehr: eine neue, postmoderne Version von Thomas Manns „Zauberberg“, mit einer weltentrückten, gläsernen Klinik hoch oben auf einem Berg. Eine Science-Fiction-Erzählung, in der die Schlafschule und das Liebesyoga aus Huxleys „Schöne neue Welt“ und „Eiland“ schon gar nicht mehr so weit entfernt wirken. Eine Tragikomödie wie Dürrenmatts „Die Physiker“. Und eine Suche nach sich selbst, die von allen Seiten erschwert wird. „Wir Ärzte“, sagt von Sterns Kollege, „schaudern vor uns selbst zurück wie die zarte Hand vor dem Heiligen, verstanden?“

Das Beeindruckende an dem Buch ist, dass es auf intelligente Art den sehr schmalen Grat zwischen Satire und Utopie trifft, zwischen dem Sichlustigmachen über das Bestehende und dem Vorwegnehmen dessen, was vielleicht kommen könnte. Es gibt Anspielungen auf Yogapraktiken und Wellnesstrends, auf Burn-out und Depression, auf Technikbegeisterung und Selbstoptimierung, die Entgrenzung der Arbeit, das Funktionieren im System und den Versuch, daraus auszubrechen. Keine dieser Anspielungen ist an sich wertend oder gar vernichtend, sie alle tragen die Geschichte des Romans und verspinnen sich ineinander. Zusätzlich mischen sich Alltagsdialoge mit der formalen Sprache des ärztlichen Berichts, esoterische und futuristische Vokabeln. „Referent richtet Patientin auf dem Behandlungstisch in Shavasana zurecht und lässt dann den Teilchenscanner über die Fernbedienung langsam wie einen riesigen silbernen Rochen von der Decke herabschweben.“

Während von Stern versucht, seinen Bericht zu schreiben, erinnert ihn eine Patientin an seine Frau, ein ganzer Schwall von Erinnerungen bricht über ihn herein. Das wird nicht einfacher dadurch, dass der Doktor eine zusätzliche Hirnrindenschicht hat und zwischen den Rippen einen Mediator trägt, dessen „Systemsteuerung vollends außer Rand und Band geraten sein muss“. Schwierig, da noch die Kontrolle über sein Prana zu behalten.

Traum und Erinnerung sind vielleicht überhaupt nur die zwei Seiten einer Medaille. Erlebtes und Erfundenes vermischen sich. Das stört aber nicht weiter, denn man bekommt beim Lesen den Eindruck, die Probleme, die die Figuren mit sich selbst und ihren Mitmenschen haben, sind nicht mehr oder weniger schwerwiegend, ob sie nun in einer Erzählung, einem Traum oder direkt in einem ganz wirklichen Augenblick stattfinden. Verwirrend ist immer nur der Übergang von einem ins andere.

„Natürlich, alle Probleme sind Probleme des Übergangs, was denn sonst?“ Das sagt ein Kollege, der Dr. von Sterns kaputten Mediator untersucht. Man kann das als Metapher für sehr vieles sehen. Für die Probleme mit neuer Technik und neuen Systemen, für den Versuch der eigenen Veränderung, für das Aufwachen aus einem Traum. Und spätestens in dem Moment, in dem der Kollege aus der Phallographie von Sterns Hirn- und Penisströme durchgemessen hat und ihm sagt, er müsse endlich seinen verdammten Eigenbericht schreiben, weiß man: Mit neuer Technik werden die Probleme nicht unbedingt weniger, nur anders. MARGARETE STOKOWSKI

Angelika Meier: „Heimlich, heimlich mich vergiss“. Diaphanes, Zürich 2012, 336 Seiten, 22,90 Euro