Ausstellungsempfehlung für Berlin: Mit der Nase die Stadt erforschen

Sissel Tolaas sammelt und erforscht die Gerüche der Weddinger Müllerstraße. Die taz sprach mit der Künstlerin und Forscherin.

Sissel Tolaas, „22“, 2019, Installationsansicht im Projektraum der Schering Stiftung Foto: Julia Zimmermann

Die Müllerstraße im Wedding, heute dessen Hauptverkehrs- und Hauptgeschäftsstraße, trägt ihren Namen nicht ohne Grund. Im 19. Jahrhundert standen dort Mühlen, 22 an der Zahl, hauptsächlich für Getreide, bis sich Ende der 1850er Jahre der Apotheker Ernst Christian Friedrich Schering von der Chausseestraße dorthin verlagerte, eine neue Zeit einläutete sowie die Geburtsstunde des Pharmaunternehmens Schering.

„22“ heißt die zweiteilige Ausstellung, welche die Künstlerin und Geruchsforscherin Sissel Tolaas vor diesem Hintergrund im Projektraum der Schering Stiftung sowie der Galerie Wedding entwickelt hat.

Die beiden Ausstellungen nähern sich der olfaktorischen Vergangenheit und Gegenwart der Müllerstraße auf unterschiedliche Art und Weise. Im Projektraum der Schering Stiftung hängen Glaskolben und Laborapparaturen von der Decke. Einige stammen aus der historischen Sammlung Scherings, die sich mittlerweile im Besitz des Technikmuseums befindet.

Duftmoleküle, die Tolaas bei ihren Forschungen gesammelt und isoliert hat, dampfen aus ihnen heraus, manche angenehmer, manche weniger, und lassen das Publikum in Tolaas Alltag als Geruchsforscherin hineinschnuppern.

Schering Stiftung: bis 24. Juni, Do.–Mo. 13–19 Uhr, Unter den Linden 32-34

Galerie Wedding: Eröffnung 18. April 19 Uhr, bis 1. Juni, Di.–Sa 12–19 Uhr, Müllerstr. 146/147

Die Weddinger Ausstellung, die heute eröffnet wird, dringt tiefer vor, überträgt in die Galerie echte Gerüche von den ehemaligen Mühlenstandorten, an denen sich heute unter anderem eine Jobagentur, eine Fischfabrik oder eine Autowaschanlage befinden, und mit diesen Weddinger Lebensrealitäten, geprägt von der Geschichte des Bezirks.

Einblick (769): Sissel Tolaas, Künstlerin und Wissenschaftlerin

taz: Welche Ausstellung in Berlin hat Sie zuletzt an- oder auch aufgeregt? Und warum?

Sissel Tolaas: Philippe Parreno im Gropius Bau. Der Bioreaktor zum Beispiel ist einfach brillant. Die Ausstellung wirft Fragen auf und gibt gleichzeitig auch Antworten auf Fragen wie: Was ist normal? Was ist Zeit? Es regt mich auf, wenn ich erlebe, wie ungeduldig der Mensch ist und wie wir uns total auf den äußeren Schein verlassen.

Sissel Tolaas studierte Chemie, Bildende Kunst, Linguistik und Mathematik in Oslo, Moskau, St. Petersburg und Oxford. In den 1990er-Jahren unterzog sie sich eines intensiven Geruchstrainings, das sie selbst entwickelte. Eines ihrer ersten urbanen olfaktorischen Forschungsprojekte wurde im Jahr 2004 auf der 3. Berlin Biennale ausgestellt. Tolaas gründete das Smell Research Lab, war Teil des Art & Science-Projektes „Synthetic Aesthetics“, arbeitete u. a. mit dem Max-Planck-Institut für Psycholinguistik zusammen und stellt ihre Kunst weltweit aus, u. a. auf der Riga Biennale (2018), im Museum of Modern Art (2016/ 2010), im Museum Tinguely (2015) und aktuell in der Schering Stiftung und der Galerie Wedding.

Zu sehen, wie die Menschen durch die Ausstellung laufen, ohne wirklich etwas davon zu erfahren und in sich aufzunehmen (weil es eben kaum etwas zu sehen gibt), zeigt, wie sehr sich die meisten von uns von ihrem Körper und ihren Sinnen entfremdet haben.

Welches Konzert oder welchen Klub in Berlin können Sie empfehlen?

Berlins Vielfalt zeigt sich sowohl in seinen kulturellen Angeboten als auch in seinen Institutionen und Klubs. Ich bin ein neugieriger Mensch, also versuche ich so viel wie möglich von dieser Vielfalt zu erleben, vom Deutschen Theater und der Berliner Staatsoper bis hin zur Kantine am Berghain und dem A-Trane.

Ich kann sie alle zu verschiedenen Tageszeiten und an verschiedenen Wochentagen empfehlen.

Welches Buch begleitet Sie zurzeit durch den Alltag?

„Sphären“ von Peter Sloterdijk und „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“ von Hannah Arendt.

Was ist Ihr nächstes Projekt?

Mein nächstes großes Projekt ist eine Geruchsfeldforschungsexpedition nach Alaska und Grönland im Juni. Parallel dazu arbeite ich zusammen mit Christina Agapakis, Alexandra Daisy Ginsberg und Ginkgo Bioworks an einem Projekt zum Thema Pflanzensterben.

Welcher Ereignis des Alltags macht Ihnen am meisten Freude?

Aufwachen und die Welt riechen. Da draußen ist eine ganze Welt, die es zu riechen gilt und eine ganze Welt, der man das Riechen beibringen muss, sodass ich kaum noch Zeit zum Schlafen habe, aber für mich gibt es nichts Schöneres. Mein Geruchsrekorder ist mir wichtiger als mein Handy.

Dieser Text erscheint im taz.plan. Mehr Kultur für Berlin und Brandenburg immer donnerstags in der Printausgabe der taz.

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