Urteil zu inklusivem Wahlrecht: Stimmabgabe möglich

Das Bundesverfassungsgericht hat entschieden, dass Vollbetreute auf Antrag bei der Europawahl teilnehmen dürfen. Details sollen folgen.

Verfassungsrichter bei der Urteilsverkündung

Bei der Urteilsverkündung blieben einige Fragen offen Foto: dpa

KARLSRUHE taz | Geistig Behinderte, die bisher nicht wählen durften, können auf Antrag an der kommenden Europawahl teilnehmen. Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) erließ an Montagabend eine entsprechende Eil-Anordnung. Erfolg hatte damit ein gemeinsamer Antrag von 216 Bundestagsabgeordneten der Grünen, der Linken und der FDP.

Bis Anfang des Jahres waren Menschen, für die in allen Angelegenheiten ein rechtlicher Betreuer bestellt ist, bei fast allen Wahlen ausgeschlossen. Für Bundestagswahlen erklärte das Bundesverfassungsgericht dies jedoch Anfang des Jahres für verfassungswidrig. Die rund 81.000 Betroffenen würden „ohne hinreichenden sachlichen Grund“ von der Wahl ausgeschlossen. Denn die Art der Betreuung sei kein sinnvolles Kriterium für einen Wahlrechtsausschluss. Manche der Vollbetreuten könnten mit Assistenz durchaus selbstbestimmt wählen, während für die ganz große Mehrheit der rund 700.000 Demenzkranken bisher gar kein Wahlrechtsausschluss gelte.

In der Folge musste der Bundestag entscheiden, ob er bessere Kriterien findet, um Personen mit stark beschränkten geistigen Fähigkeiten von der Wahl auszuschließen oder ob er auf Wahl-Ausschlüsse künftig verzichtet. Mitte März votierte der Bundestag mit großer Mehrheit dafür ,ein „inklusives Wahlrecht“ für alle zu schaffen. Behinderten-Organisationen wie die Lebenshilfe hatten sich schon lange dafür stark gemacht.

Für die kommende Europawahl am 26. Mai sollte das inklusive Wahlrecht allerdings noch nicht gelten. CDU/CSU und SPD wollten das neue Wahlrecht erst einmal gründlich diskutieren. Einen Antrag von Grünen, Linken und FDP, die Wahlrechtsausschlüsse im Europawahlgesetz einfach zu streichen, lehnte die Mehrheit ab. So müsse zum Beispiel erst diskutiert werden, welche Art von Assistenz geistig behinderte Wähler brauchen. Außerdem müsse mit Strafvorschriften die Manipulation der assistenzbedürftigen Wähler verhindert werden.

„Es fehlt schlicht die Zeit“

Doch die Abgeordneten der drei Oppositionsfraktionen gaben nicht auf und stellten einen Eilantrag an das Bundesverfassungsgericht, über den am Montagnachmittag verhandelt wurde. „Es besteht kein Grund, ein offensichtlich verfassungswidriges Recht aufrechtzuhalten“, sagte Britta Haßelmann, die parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen. Es gebe schließlich keinen Zweifel, dass die Wahlrechtsausschlüsse nicht nur im Bundestagswahlgesetz, sondern auch im Europawahlgesetz verfassungswidrig seien.

Innenstaatssekretär Stephan Mayer (CSU) warnte das Gericht: Der Antrag der Abgeordneten überfordere die Kommunen. „Es fehlt schlicht die Zeit“, so Mayer. Die Wählerverzeichnisse seien bereits erstellt. Bundeswahlleiter Georg Thiel sah die Lage nicht ganz so dramatisch: Die Wahlteilnahme der bisher ausgeschlossenen 81.000 Vollbetreuten sei zwar „sehr schwierig, aber nicht objektiv unmöglich“. Wegen der knappen Zeit könne es allerdings zu einzelnen Fehlern in den Wählerverzeichnissen kommen. Der bayerische Landeswahlleiter Thomas Gössl schätzte den Verwaltungsaufwand auf zehn Minuten pro zusätzlichem Wahlberechntigten.

BVerfG-Präsident Andreas Voßkuhle schlug in der Verhandlung vor, dass nur diejenigen Vollbetreuten wählen dürfen, „die sich von sich aus melden“. Sein Richter-Kollege Peter Huber ergänzte: „Wenn nur ein Teil ins Wählerverzeichnis eingetragen werden will, dann hat die Verwaltung doch deutlich weniger Arbeit“.

Details erst in ein paar Tagen

Bundeswahlleiter Thiel reagierte jedoch sehr skeptisch auf den Vorschlag. Bei einem Antragsverfahren sei der Aufwand eventuell noch viel höher, weil die Betroffenen Beratung bräuchten. Der FDP-Abgeordnete Jens Beeck warnte, die Betroffenen könnten es als neue Diskriminierung empfinden, wenn sie ihr Wahlrecht erst beantragen müssen.

Doch die Verfassungsrichter ließen sich vom Verlauf der Diskussion nicht beeindrucken. Am Ende der Sitzung verkündeten sie – wie offensichtlich geplant – das Antragsmodell.

Dass die Verfassungsrichter noch am Tag der Verhandlung ein Urteil verkünden, ist eine große Ausnahme und nur dem extremen Zeitdruck geschuldet. Die Richter beschränkten sich allerdings auf das nackte Ergebnis, den sogenannten Tenor. Viele Fragen blieben deshalb zunächst offen. Wie etwa: Kann der Behinderte selbst das Wahlrecht beantragen oder muss dies sein Betreuer für ihn tun? Wo endet die Assistenz bei der Wahl und wo beginnt die Manipulation des behinderten Wählers? Antworten lassen sich wohl erst in der schriftlichen Begründung finden, die das Gericht in einigen Tagen veröffentlichen will.

Neben den 81.000 vollbetreuten Behinderten gilt die Entscheidung auch für rund 3.000 Straftäter, die bei Begehung der Tat als schuldunfähig erachtet wurden und deshalb in einer Psychiatrie untergebracht sind. Sie spielten in der Diskussion fast keine Rolle.

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