Debatte Europawahl: Aufbruch in den Niedergang

Am 26. Mai findet die Entscheidung statt: Kann sich die EU gegen interne sowie externe Freunde und Feinde aufstellen?

Zwei Demonstrantinnen der Bewegung PULSE OF EUROPE in Berlin

Sie wollen in Europa einen Aufbruch Foto: imago images/snapshot

Am Sonntag, dem 26. Mai, werde ich im TriO (Treffpunkt im Ort) in Wahlstedt hinter einem Tisch sitzen zwischen zwei entweder weißhaarigen Frauen oder Männern, die seit langer Zeit kein Haar mehr auf dem Kopf haben – Europawahl in Deutschland. Diese symbolisieren den derzeitigen Zustand der Europäischen Union vortrefflich: keine Ideen mehr und von Steuergeldern finanziert. Am Ende erhalte ich wahrscheinlich 35 Euro für einen verlorenen Sonntag – Europawahl in Deutschland. Aber wieso nutze ich nicht meinen einzigen freien Tag in der Woche, um am angrenzenden Basketballfeld zu sein – Europawahl in Deutschland. Dabei fanden es letztes Mal nicht mal die Hälfte der Wahlberechtigen notwendig, wählen zu gehen, eigentlich sehr gut für mich, denn ich werde nicht nach Stunden bezahlt. Genügt es nicht, wenn ich meine bürgerlichen Pflichten damit erfülle, indem ich meine körperlichen Energiereserven hinsichtlich des Sports schone und als Dank eine Hin- und Rückfahrt nach Kiel kaufen kann – ein Schnapper, wie alles im SH-Tarif.

Das bringe ich gerade zu Papier oder eher auf den Laptopbildschirm, während ich auf dem Weg nach Texel, einer niederländischen Nordseeinsel, bin, um als Volonteer bei dem „Alive Democracy“ mitzumachen. Dieses Festival soll Werbung für die Europawahlen machen, indem sich Spitzenkandidaten der europäischen Parteien vorstellen und viele unterschiedliche Workshops von Google bis ETUC angeboten werden. Von den anstehenden Europawahlen erwarte ich viel, denn hier wird sich zeigen, ob man aus der vergangenen Geschichte wenigstens ein bisschen für die bevorstehende Zukunft, die uns bereits heute mit riesigen Problemen und Herausforderungen konfrontiert, gelernt und verstanden hat. Durch diese Wahlen muss vor allem die junge Generation stärker mit eingebunden werden. In einer repräsentativen Demokratie muss jede Bevölkerungsschicht vertreten sein und für mich sind 40 Jahre alte Männer, die gegen den bevorstehenden Haarausfall kämpfen, nicht mehr als Teile der Jugend zu verstehen. Mich wundert es nicht, dass die Wahlbeteiligung von jungen Leuten mit die niedrigste ist, wenn nur 11 Prozent der Abgeordneten „jung“ sind, also für parlamentarische Verhältnisse heißt das nicht älter als 40. Auch das Verhältnis von Durchschnittsalter des europäischen Parlamentes mit 54 Jahren und dem durchschnittlichen Alter in der EU mit 43 Jahren zeigt die Spannung. Keine Sorge, Sie haben sich nicht verrechnet, es herrscht eine Diskrepanz von 11 Jahren, also mehr als ein Jahrzehnt, zwischen dem Parlament und der Bevölkerung.

Der Weg zur heutigen EU ist ein langer Prozess gewesen, denn mit der Gründung der Montanunion nach dem Zweiten Weltkrieg ist der Grundstein der EU gelegt. Mit den Römischen Verträgen 1958, die die Euratom und die EWG ins Lebens rufen, wird der europäische Gedanke weitergeführt. Mit der Verschmelzung der drei Vereinbarungen zu der Europäischen Gemeinschaft, die ein Jahr später 1968 zur Zollunion wurde, wird die Zusammenarbeit weiter intensiviert. Erst 1992 mit dem Verabschieden der Verträge von Maastricht entsteht die EU und wird später mit dem Schengener Abkommen erweitert. Mit dem Lissabonner Vertrag und der Einführung des Euros haben wir im Grunde die derzeitige Union erreicht. Sie merken selbst: sehr technokratisch und undurchsichtig, aber womöglich war das jedoch der einzige Weg, der die EU möglich gemacht hat.

Die Europawahl als Entscheidungswahl

Heutzutage benötigen wir besonders neue gesetzliche Regulierungen, nicht mehr nur auf europäischer Ebene, für die bereits vollzogenen Veränderungen der Gesellschaft und Wirtschaft – Internet, Familienkonstellationen, künstliche Intelligenz, Managergehälter – oder anstehende Probleme – siehe Klimakatastrophe. Sowohl bei dem einen als auch bei dem anderen sind besonders junge Leute auf der Straße. Besonders diese wollen einen Aufbruch, und dieser Aufbruch kann am 26. Mai Wirklichkeit werden.

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Somit sind die diesjährigen Europawahlen eine Entscheidungswahl; kann die EU sich stark und selbstbewusst gegen interne sowie externe Freunde und Feinde aufstellen, die sich eine schwache Union ersehnen, damit sie ungehindert ihre eigenen egoistischen – oftmals nationalstaatlichen – Interessen durchsetzen können? Diese Leute gilt es zu besiegen, dies kann jedoch nur gelingen, wenn wir gemeinsam zur Wahl gehen und unsere Stimme nicht den politischen radikalen Rändern geben, sondern den Demokraten. Es geht um die europäische Demokratie, um das Scheitern oder den Aufbruch in ein neues Zeitalter. Ein Zeitalter, das aus Feinden Freunde macht. Ein Zeitalter, das vereint und nicht spaltet, das Mauern nicht einreißt, sondern sie durchlässig macht und Mauerreste als Mahnmal der Vergangenheit versteht. Es ist die Zeit der Demokraten, der Staatsbürger, der Europabürger. Wir müssen unsere Verantwortung gegenüber unseren 512.000.000 europäischen Mitmenschen und dabei besonders für die, die noch nicht wählen dürfen, wahrnehmen. Das geht mit einer Wahl – aber wirklich nur, wenn man wählt, denn die Demokratie ist nur so stabil, wie man sie macht. Das heißt, Demokratie beginnt nicht an der Urne, sondern davor – im Leben. Dafür ist eine Partei nicht nötig. Viel mehr die Überzeugung, dass man auf der Welt etwas bewegen will, damit die kommenden Generationen auf derselben oder einer herrlicheren Ebene sein können. Politisches Engagement ist das Kernstück der Zivilgesellschaft, welches wiederum das Kernstück der Demokratie ist.

Das heißt für mich, dass ich dann am 26. Mai nicht nur an einem Tisch sitzen werde, sondern ich werde Teil der europäischen Idee. Einer Idee, die von Portugal bis Zypern geht, die von Schweden bis Malta reicht. Eine Idee, die in Vielfalt eint, die alle Menschen Brüder werden lässt. Für diese Idee, für diese Vision werde ich da sein, für diese Idee werde ich kämpfen, und für diese Idee werden wir siegen. Denn wir können die europäische Utopie wirklich werden lassen.

Und übrigens: Demokratie ist mehr, als alle paar Jahre ein Parlament zu wählen …

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