Elektronik- Album von Holly Herndon: Starke Unterkühlung

US-Avantgarde-Künstlerin Holly Herndon fährt für ihr neues Album „Proto“ intelligente Software auf. Aber tut die KI der Musik auch gut?

Eine Frau guckt erschrocken vor einer Leinwand, die einen Film zeigt

Schlau, aber diesmal etwas zu spröde: Holly Herndon mit Chor Foto: Boris Camaca

Wie ein natürlicher Reflex wirkt die – mittlerweile zur Gewohnheit gewordene – Wertschätzung der in Berlin lebenden US-Musikerin Holly Herndon durch die ambitionierte Musikpresse. Sie führt in ihren spitzesten Auswüchsen zu solchen Stilblüten wie derjenigen, die das britische DJ Mag kürzlich veröffentlichte. „Wenn die Maschinen so gut klingen wie auf diesem Album, dann wird es schon nicht so schlimm werden, sobald sie die Macht übernehmen und uns versklaven“, heißt es da blauäugig.

Zu Ende gedacht wäre Herndons viertes Album, „Proto“, dann gar die Offenbarung einer zukünftigen transhumanistischen Gesellschaft. Über derart affirmative Tollpatschigkeit ließe sich trefflich streiten, dennoch lohnt ein genauerer Blick auf den Hype um die 39-jährige US-Künstlerin.

Grundsätzlich befeuert ja nicht nur die Reputation, die sich Herndon über die vergangenen sieben Jahre mit drei gelungenen elektronischen, Tech-affinen Alben erarbeitet hat, sondern auch das Konzept von „Proto“: Mit „Spawn“ werkelt nun eine künstliche Intelligenz, die über Monate von ihrer Erschafferin Herndon anhand der eigenen Stimme gelehrt wurde, wie der menschliche Sprech- und Singapparat klingt und was er macht.

Gleich mit Doktortitel

Die Entwicklung dieser Software-Intelligenz war sogleich eine wissenschaftliche Untersuchung, die Herndon nun neben dem neuen Album auch einen Doktortitel an der kalifornischen Stanford University in Musik-Technologie – respektive computerbasierte Musik- und Akustikanalyse – bescherte.

Die Programmierung von „Spawn“ gestaltete sie zusammen mit ihrem Langzeit-Krea­tiv-Partner, dem britischen Künstler Mat Dryhurst. Seit geraumer Zeit tritt das Duo als Doppel-Sprachrohr einer neuen digitalen ­(Kreativ-)Boheme in Erscheinung. Dementsprechend inszeniert man sich nicht nur als künstlerischer, sondern auch als diskursiver Act bei Festivals. Hier wie dort widmet sich Holly Herndon eher den ästhetischen als den moralischen Problemstellungen von künstlicher Intelligenz. Für ihr Album heißt das konkret, dass „Spawn“ gelehrt wurde, ein eigenes Verständnis, eine eigene Lieblingsästhetik zu entwickeln.

Herndon befragte diese im weiteren Produktionsprozess mehr als einmal; als Stichwortgeberin, als Helferin und als Teil ihres MusikerInnen-Ensembles. Neben dieser technischen Novität, die sicher nicht nur als Gimmick gedacht ist, bietet „Proto“ zuvorderst eine tiefe Auseinandersetzung mit dem menschlichen Gesang und seiner Geschichte. In dieses Spiel aus Natur (Stimme) und Kultur (Musik) sowie Kunst und künstlich reihen sich die insgesamt 13 Stücke ein.

Geistlicher Chorgesang

Besondere Bedeutung kommt dem sogenannten „Sacred Harp Singing“ zu, einer besonderen Art des Chorgesangs, der in den US-Südstaaten entstand und dort bis heute gepflegt wird. Benannt nach einem Liederbuch aus dem Jahr 1844, das sakralen Liedergesang vereinfachen und für jedermensch zugänglich machen sollte. Hier wird vierstimmig gesungen, nicht mit absoluten Noten, sondern mit vorgegebenen Intervallen; da die SängerInnen im Quadrat (dem Square) stehen, singt man zusammen, gemeinsam und vor allen Dingen für sich – zur Stärkung des gottes­gläubigen Selbst.

Holly Herndon: „Proto“ (4AD/Beggars/Indigo)

Als Referenz wäre dies schon interessant genug. Von daher sei die Frage gestattet, ob die übermenschliche Zusatznote des KI-Gesangs denn nun einen ästhetischen und nicht nur einen konzeptuellen Mehrwert hinzufügt. Herndons Musik antwortet selbst, obgleich nicht durchgehend befriedigend. Der Auftakt „Birth“ stellt die einminütige Ouvertüre dar, die durch Glitches und Verzerrung den Weg ebnet für „Alienation“.

Diese „Verfremdung“ gibt sich als FutureHop-Stück, das durchaus an das Gesamtwerk der Künstlerin anschließt. Die arg denaturierten Orgel- und Synthiesounds klingen dementsprechend nach Computermusik im besten Sinne; so tönt das vorprogrammierte Radio in nicht mehr allzu ferner Zukunft. Wohlklingend für Mensch und Maschine zugleich. Das wäre dann der ideale Soundtrack für Luc Bessons Klassiker „Das fünfte Element“, wenn er heute gedreht würde.

Geht hoch wie Rakete, verglüht schnell

Nach dem Zwischenspiel „Canaan“ geht es aufgekratzt zu Track vier, „Eternal“, der Avant-Pop klassischer Herndon-Art bietet. Es flickert und flackert an allen Ecken, Stimmen schichten sich übereinander, verschmieren, leiern und kommen wieder zusammen. So weit, so wirklich gut. Dennoch scheint Herndons Album damit als musikalisches Werk schon fast auserzählt. „Proto“ zündet schnell und verglüht raketengleich im nächsten und übernächsten Jahrzehnt, in einer Zeit also, in der künstliche Intelligenzen mitentscheiden werden, was en vogue ist und was nicht. Doch das stellt sich gerade auch als Krux von „Proto“ heraus.

Obgleich es weitere lichte Momente gibt, etwa den verschrobenen Waldspaziergang somnambuler Qualität („Crawler“) und das konsequenteste Future-Sacred-Harp-Chor-Stück „Frontier“, wirkt ein Großteil von Herndons Musik wenig mitreißend. Nervige Dauer-Unterkühlung durchzieht den Sound. So fällt „Proto“ im Vergleich zu den Vorgänger-Alben „Platform“ und „Movement“ ab, die ebenso Konzept-schwer geraten waren, aber dies gerade durch klangliche Leichtigkeit und simple Schönheit kompensierten und ihren Stoff dadurch attraktiver vermittelten. Schade um die ganze Arbeit!

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