Letzte Chance für alte Kämpen

taz-Serie Wahlkreisduelle (Teil 3): Im armen Neukölln treffen zwei Vorzeigeexemplare des schicken Westberlin aufeinander: Dauerbürgermeister a. D. Eberhard Diepgen und Staatssekretär Ditmar Staffelt. Keiner ist auf der Landesliste abgesichert

■ Die Wahlkreisduelle: Selten war der Kampf um Bundestags-Direktmandate in Berlin so spannend wie in diesem Jahr. 2002 gewannen die SPD neun, die PDS zwei und die Grünen einen Wahlkreis. Es ist unwahrscheinlich, dass die Sozialdemokraten dieses Ergebnis wiederholen. Die Union hat laut Umfragen zugelegt, auch die PDS besitzt gute Chancen, zusätzliche Mandate zu gewinnen. Die taz beobachtet jede Woche ein besonders spannendes Duell

VON ULRICH SCHULTE

Spätestens hier, in dem Altbauerdgeschoss an der Donaustraße 100, das mal einen illegalen Puff beherbergt hat, wird klar: Die Idee funktioniert nicht. Draußen knallt arabischer Pop aus einem schwarzen BMW, drinnen sitzt Eberhard Diepgen und erklärt nicht Neukölln, nein, er erklärt die Welt. Metropolenfrage, Werteorientierung in der EU, parteiübergreifender Hauptstadt-Lobbyismus – das sind seine Themen. Neukölln und Diepgen zusammen zu denken, das ist wie einen saftigen Döner zu Haute Cuisine zu reichen.

Es ist Wahlkampf und Bürgersprechstunde im Neuköllner CDU-Wahlkreisbüro, die letzten Besucher, ein Rentnerpaar, sind gerade gegangen. Diepgen mimt Diepgen, den Staatsmann, den Granden der Hauptstadt-CDU und nebenbei den Direktkandidaten. Präsidial spricht er, langsam, betont, nach Sätzen, die ihm wichtig sind, lässt er sekundenlange Pausen. „Der Wahlkreis ist holbar“, sagt er. „An der Art, wie mir die Menschen begegnen, erkennt man meine Verbundenheit mit der Stadt.“ Diepgen ist 63 Jahre alt, er hat die Stadt 15 Jahre regiert, er ist der etwas angestaubte Trumpf der Landes-CDU. Sein Comeback soll den Bezirk der SPD und damit Ditmar Staffelt abjagen, Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium, den die NeuköllnerInnen die vergangenen beiden Male in den Bundestag wählten. Auch Staffelt galt mal als eine der größten Nummern der Stadt. Anfang der 90er war das, Staffelt arbeitete als Chef von Landes-SPD und Fraktion Seite an Seite mit Diepgen in der großen Koalition.

Alte Berliner Schule

Es ist eines der absurdesten Duelle der Stadt: Zwei alte Kämpen einer fast verschwundenen Westberliner Riege treten an, plötzlich gegeneinander. Für beide geht es um alles. Diepgen steht nicht auf der CDU-Landesliste, Staffelt ist bei seinen Leuten auf einem wackeligen Platz 6 gelandet. Und ausgerechnet Neukölln, das Schmuddelkind unter den Bezirken, wird zum Schauplatz ihres Kampfes (siehe Bericht unten). Arm, von einem Magazin als „Bronx Berlins“ beschimpft, fehlt hier das Geld am dringendsten, das durch den Berliner Größenwahn der 90er-Jahre – auch unter Diepgen und Staffelt – verballert wurde.

Jede Bundestagswahl wirft Politiker zurück auf ihr Volk, auf das wahre Leben. Nach seinem Bezug zu Neukölln gefragt, erzählt Diepgen davon, dass er schon 1985 im Wahlkreis Gropiusstadt für das Abgeordnetenhaus kandidierte, von der Großmutter seiner Frau, die lange hier lebte, und vom schönen, na, wie hieß er doch gleich? – „Körnerpark“, hilft der Mitarbeiter. Diepgen wohnt in Wilmersdorf.

Genau wie übrigens Ditmar Staffelt. Nur dass dem zu Neukölln auf Anhieb mehr einfällt, schließlich stammt er von hier. Oder-, Ecke Allerstraße geboren, ein paar Meter weiter beginnen die Startbahnen vom Flughafen Tempelhof. In den 50ern lebten hier Facharbeiter, kleine Leute, die in der Kindl-Brauerei schufteten. „Eine aufstrebende Ecke halt. Die Menschen wollten, dass aus ihren Kindern was wird.“ Das „Was-Werden“ hat bei Staffelt gut geklappt, aber Kindl wird dichtgemacht, Neukölln liegt bei der Arbeitslosigkeit ganz vorne, und der Staatssekretär, einziger Regierungsvertreter aus Berlin, könnte aus dem Bundestag fliegen. Die Zeiten ändern sich.

Und so kommt es, dass Staffelt in einem kargen Raum zwischen Staffelt-Flyern und Staffelt-Mitarbeitern sitzt und mit dröhnender Stimme erzählt, was er für Neukölln alles erreicht hat. Es ist so viel, dass man sich fast ein wenig wundert, wofür ein Bundeskoordinator für Luft- und Raumfahrt („Tempelhof, klar, ist mir in die Wiege gelegt worden.“) noch so alles Zeit hat. Für den Jobpoint am Kino Passage gekämpft, Kontakte zum Vorstand der Arbeitsagentur – wer hat, der hat. Den Umbau von Neuköllner Grundschulen zu Ganztagsschulen begleitet, selbst bei der Nachnutzung des Brauereigebäudes will Staffelt ein Wörtchen mitreden. So ist er halt, der Wahlkampf. Auch Diepgen erzählt in diesen Tagen gerne, dass ihn der Comenius-Garten schon immer interessiert hat.

Diepgen und Neukölln, das ist auch deshalb ein seltsames Paar, weil gerade der Norden des Bezirks inzwischen das Synonym für Multikulti ist, wie es einst Kreuzberg war. Dennoch glaubt Diepgen, hier punkten zu können – trotz des großen Cs im Parteinamen, trotz der Ablehnung des EU-Beitritts der Türkei, trotz harter Positionen bei der Zuwanderung. „Junge Muslime verachten die Beliebigkeit unserer Gesellschaft. Wenn jemand für Werte steht wie ich, verstehen die Menschen das.“ Mit der Einschätzung könnte er richtig liegen: Viele Migranten pflegen einen geradezu beispielhaft konservativen Lebensentwurf.

Staffelt redet, gemäß seinem Ressort, am ausführlichsten über Wirtschaft: Die Nähe zum Flughafen Schönefeld müsse man nutzen, Neukölln könne sich „ein Stück vom Tourismuskuchen“ sichern, Hartz IV mache auch denen Angebote, die „in Sozialhilfekarrieren feststecken“.

Das goldene Schild mit dem Bundesadler, das den Weg zu seinem Bürgerbüro weist, wirkt deplatziert an der Karl-Marx-Straße mit ihren 99-Cent-Läden und Billigjuwelieren. Staffelt hat neben Kanzler Schröder gesessen, in einem Jet der Bundeswehr, er stand neben Chirac, bei dem großen Airbus-Deal. Jetzt muss er empörte Faxe schreiben, wenn eine unbekannte CDU-Stadträtin der Meinung ist, dass MigrantInnen, die nicht richtig Deutsch lernen wollen, ausgewiesen werden sollten. Für Staffelt ist die Fallhöhe größer als für Diepgen, den Beinahe-Ruheständler.

Er ballt die Fäuste, er redet laut und viel, wie ein geladener Kompaktakku sitzt er da. „Ich bin so, ich bin kein guter Versteller“, sagt er. Die Niederlage im Fight um die Listenplätze – Vergangenheit. Staffelts Handy piept, ein Parteifreund hat eine SMS geschickt: „Mist, die Morgenpost hat’s kapiert“, liest er laut vor und lacht. Immerhin Platz 6 auf der Landesliste hat ihm eine Absprache mit der Kreuzberger Verbandschefin gesichert, auch Staffelt weiß zu taktieren. Zuvor hatten die innerparteilichen Linken den Bundestagsabgeordneten Swen Schulz auf den sicheren Platz 5 gehievt. Den Platz, den auch Staffelt angepeilt hatte. Nummer 6 hingegen dürfte nicht reichen.

Auch Diepgen ist nicht per Liste abgesichert. „Bewusst“, sagt er, „weil ich mich nicht in die Diskussionen der Landespartei einmischen wollte.“ Derlei Machtspielchen habe ich hinter mir, heißt das. Doch sein Risiko hält sich in Grenzen.

Die Kandidaten geben sich zwar cool, doch auf den Parteifluren werden die Chancen genauestens ausgelotet. Staffelt wird – als Regierungsvertreter – die Wut der Leute auf Hartz IV zu spüren bekommen, sie wurde ihm schon bei der Listenplatzvergabe zum Verhängnis. Der Bundestrend spricht gegen ihn. Und schließlich, noch viel wichtiger, Diepgens Gesicht kennen nach wie vor die meisten BerlinerInnen, während Staffelt in den vergangenen Jahren im Bundesministerium und damit von der Bildfläche verschwunden war.

So wie es im Moment aussieht, wird Diepgen als Erster ins Ziel rennen. „Wir sehen bei den Erststimmen eine klare CDU-Führung von knapp 10 Prozent“, prognostiziert Matthias Moehl vom Wahlinformationsdienst election.de und fügt hinzu: „Auch dank des Bekanntheitsbonus von Diepgen.“ Der Dienst rechnet mittels statistischer Verfahren aktuelle Umfragen auf die Wahlkreise herunter.

Jagd auf Grünwähler

Je nachdem, was sich im Bund tut, könnte sich dies noch ändern, schließlich hopst die CDU derzeit von Fettnapf zu Fettnapf. Die desaströse Performance – die Sprüche Stoibers über den Osten – strahlt nach Neukölln aus, selbst wenn hier kaum Ostler wohnen. „Es wird darauf ankommen, wem die Grünwähler ihre Erststimme geben“, ist Staffelts Fazit. Denn Sibyll Klotz, die grüne Direktkandidatin, werde den Wahlkreis auf keinen Fall holen.

Das sieht Klotz ähnlich, sie formuliert es nur etwas verhaltener: „Natürlich sind meine Chancen faktisch kaum vorhanden.“ Sie spielt den Terrier in dem Elefantenrennen, sie will pieken, „diesen Gestrigen, den Konstrukteuren der großen Koalition“, Stimmen klauen und für die grüne Zweitstimme werben.

Auch Sibyll Klotz passt nicht recht zu Neukölln. Die Chefin der Grünen-Fraktion im Abgeordnetenhaus wohnt in Kreuzberg mit ihrer Freundin zusammen, sie steht für ein dezidiert alternatives Milieu. Ihre Partei hat die Arbeitsmarkt- und Frauenpolitik-Fachfrau auf dem Listenplatz 3 abgesichert. Er gilt als sicheres Ticket, im Moment haben die Grünen 4 Leute per Landesliste im Bundestag.

Es gehört zu den Absurditäten einer Wahl, dass ihr ausgerechnet ein Parteifreund, den sie im Bund „unbedingt dabeihaben“ will, in die Quere kommen könnte. Der grüne Altstar Hans-Christian Ströbele kämpft in Friedrichshain-Kreuzberg erneut um ein Direktmandat. Gewinnt er, rutscht Klotz auf 4. Eine Sackgasse? Sie selbst sieht das Zusammenspiel eher salomonisch: „Wenn die Grünen insgesamt ein gutes Ergebnis schaffen, kommen wir beide rein. Wenn nicht, kriegen wir beide Probleme.“