Kolumne Wir retten die Welt: Irrsinn der praktischen Vernunft

Der Begriff „Vernunft“ ist zu einem Kantholz des Kapitalismus verkommen. Das zeigt das Urteil zum Kükenschreddern.

Ein Hühnerküken in Nahaufnahme

Das massenweise Kükenschreddern bleibt vorübergehend erlaubt Foto: imago images/photocase

Es war Blödsinn und wahrscheinlich auch gefährlich. Aber doch auch irgendwie notwendig. Den ganzen Tag war es schwül wie im Dampfbad gewesen. Und gerade als ich abends aufs Fahrrad stieg, um zum Baden zu fahren, begann das Gewitter. Am See angekommen, war ich klatschnass, über mir rollte der Donner und zuckten die Blitze. Als der Sturm ein bisschen weitergezogen war, ging ich trotz Gegrummel und Geblitze für ein paar Minuten ins Wasser. Nein, vernünftig war das wirklich nicht.

Aber immerhin: Es war meine eigene private Unvernunft, die nur mir geschadet hätte, wenn mich im See ein himmlischer Elektroschock gegrillt hätte. Diese falsche Entscheidung hätte keinem geschadet – außer vielleicht meiner Familie oder den LeserInnen dieser kleinen Kolumne. Privat treffen wir ja ohnehin jeden Tag mehr oder weniger rational in vielen Bereichen unsere Wahl.

Es ist aber etwas ganz anderes, wenn im Namen des Volkes das Bundesverwaltungsgericht befindet: Für die nächste Zeit sei es noch „vernünftig“, jährlich 45 Millionen Küken gleich nach dem Schlüpfen zu töten, nur weil sie das falsche Geschlecht haben. Ethisch ist das ein Skandal. Vor allem zeigt es, wie sehr der Begriff „Vernunft“ zu einem Kantholz des Kapitalismus verkommen ist. Auch ohne einen Exkurs durch 3.000 Jahre Philosophiegeschichte sollte klar sein, dass Vernunft das „Vermögen zur Erkenntnis“ ist. Rational ist, was logisch, angemessen und für möglichst viele möglichst gut ist.

Das ist die industrielle Landwirtschaft sicher nicht. Im Gegenteil: Sie erzeugt millionenfaches Leid und zerstört unsere Lebensgrundlagen. Wie kann das vernünftig sein? Nur wenn man eine „Vernunft“ akzeptiert, die für Kostenreduktion und Optimierung der industriellen Verwertungsmaschine des Lebens über Leichen geht. Diese „Vernunft“ kann sich nichts anderes vorstellen, als dass diese Form der Nahrungsherstellung die beste oder einzige Möglichkeit ist, um uns zu ernähren. Aber diese Annahme ist irrational.

Gerichte: Auch Kohle dient „Allgemeinwohl“

Ganz ähnlich ist das beim „Gemeinwohl“. Immer noch werden Dörfer zerstört und Menschen enteignet, weil sie der Braunkohle im Weg stehen. Begründet wird das auch von den höchsten Gerichten damit, die Energiegewinnung aus der Kohle diene dem „Allgemeinwohl“.

Das ist heutzutage aber komplett irre: Erstens können wir den Strom anders produzieren, zweitens ruinieren die Kohlekraftwerke fleißig genau das Allgemeinwohl, das wir „stabiles Klima“ und Heimat nennen. Auch Autobahnen werden gern mit dem „Gemeinwohl“ begründet, ebenso wie jede Art von Wirtschaftswachstum, so zerstörerisch es auch sein mag: Schafft es Jobs und Profit, trägt es nach dieser Lesart zum Gemeinwohl bei, auch wenn es eher das Gemeinunwohl fördert. So ist das in einem Wirtschaftssystem, das selbst noch über Wachstum jubelt, wenn es darin besteht, die Schäden des Wachstums zu beseitigen.

Angebliche Vernunft und vorgetäuschtes Gemeinwohl gelten in unserer Ordnung immer dann viel, wenn sie ein System stabilisieren, das unsere Lebensgrundlagen destabilisiert. Bei so viel rationalem Verhalten kann es nur helfen, ab und zu komplett unvernünftig zu handeln. Man muss ja nicht gleich bei Gewitter schwimmen gehen.

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Jahrgang 1965. Seine Schwerpunkte sind die Themen Klima, Energie und Umweltpolitik. Wenn die Zeit es erlaubt, beschäftigt er sich noch mit Kirche, Kindern und Konsum. Für die taz arbeitet er seit 1993, zwischendurch und frei u.a. auch für DIE ZEIT, WOZ, GEO, New Scientist. Autor einiger Bücher, Zum Beispiel „Tatort Klimawandel“ (oekom Verlag) und „Stromwende“(Westend-Verlag, mit Peter Unfried und Hannes Koch).

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