Kuratoren dringend gesucht

BERLIN MUSIC WEEK Die Arbeit der Musikbranche ist niemals kreativ, glaubt der Soziologe Jeremy Gilbert

Im Nebenraum war eben noch zu erfahren, wie heute Musikvideos promotet werden – kurz gefasst: mit emotionaler Marketing-Rhetorik, wow. Hier steht nun der britische Soziologe Jeremy Gilbert und bittet sein Publikum, niemals für multinationale Musikkonzerne zu arbeiten, auch wenn dies bei einigen Anwesenden längst der Fall sein dürfte. Gilbert hat ein Problem damit, dass die Plattenlabels und -verlage ihre eigene Rettung rhetorisch mit der Rettung von Kunst kommunizieren. „Der Begriff ‚kreativ‘ spielt beispielsweise eine zentrale Rolle im wirtschaftlichen Diskurs dieser Firmen. Aber wann sind diese Firmen überhaupt kreativ, im künstlerischen Sinne? Niemals.“

Gesunkene Umsätze

Die Panels zur Eröffnung der zum dritten Mal stattfindenden Berlin Music Week am Mittwoch sind nur mäßig besucht. Das ist schade, denn neben dem bekannten Branchengejammer wegen sinkender Umsatzzahlen gibt es durchaus erfrischende Gegenpositionen zu hören. Zum Beispiel von Jeremy Gilbert, der an einer Londoner Universität Cultural Studies lehrt. Er zeigt sich dezent erfreut darüber, dass aufgrund des Überangebots an frei herunterladbarer Musik im Netz, diese nicht mehr als Handelsware gilt. „Das bringt zweierlei Verlierer mit sich“, sagt Gilbert. Zum einen die Musiker, welche vergeblich versuchen, Einkommen zu erwirtschaften, um weiterhin Musik produzieren zu können. „Zum anderen Multis, die langfristig unbegrenztes Kapital ansammeln möchten.“

Das zu lösende Problem sieht Gilbert nicht darin, diese Industrie vor dem Einsturz zu bewahren, sondern vielmehr in dem Versuch, neue Möglichkeiten für Musiker zu schaffen, sich und ihre Kunst zu finanzieren. Die Produktion von Musik müsse verstärkt durch öffentliche Mittel gefördert werden, fordert der Brite. Nicht in dem Sinne, dass staatliche Institutionen direkt die zu fördernden Künstler bestimmen. Diese Aufgabe sollen laut Gilbert Kuratoren übernehmen.

Dass ein solches Vorhaben durchaus gelingen kann, beweist am Abend das Projekt ICAS Suite. Veranstaltet vom Club Transmediale im Rahmen der Music Week laufen parallel Konzerte in fünf Locations rund um das Kottbusser Tor. Ein Musikprogramm fernab vom gewinnorientierten Modell und trotzdem mit einem preiswerten Ticket für alle zugänglich. Internationale Kooperationspartner – darunter Festivals wie das Londoner Alpha-Ville, die Musikmagazine Spex und The Wire sowie Kulturinstitute und unabhängige Labels – dürfen jeweils ein Konzert kuratieren und dabei die von ihnen unterstützten, vornehmlich experimentellen Undergroundmusiker präsentieren. Das Ergebnis ist etwa die geistreichen Show des britischen Duos Sculpture. Ihre in Spiralen rotierenden Grafikschnipsel auf der Leinwand verbinden sich mit der DIY-Ästhetik von Animateur Reuben Sutherland und Produzent Dan Hayhurst auf der Bild- und Soundebene so ideal, dass man kaum mehr wegsehen kann.

FATMA AYDEMIR