Die Verwalter des Wissens

Weltweit wächst das Wissen der Menschheit und verdoppelt sich etwa alle zwei Jahre. Im Internet will die Enzyklopädie Wikipedia mit diesem Wachstum Schritt halten, in allen Sprachen, kostenlos

von DIETER GRÖNLING

Das waren noch Zeiten, als ein einziges Gehirn das gesamte Wissen der Menschheit speichern konnte. Egal, ob Astronomie, Physik oder Medizin – ein „Universalgelehrter“ war noch vor ein paar Jahrhunderten durchaus imstande, alle auftauchenden Fragen erschöpfend zu beantworten. Doch seit dem Beginn der Moderne hat sich das Wissen etwa alle 14 Jahre verdoppelt. Und diese Zeitspanne wird immer kürzer, heute beträgt der Zyklus nur noch zwei Jahre.

Und selbstverständlich soll das Wissen per Knopfdruck zur Verfügung stehen. Möglichst umfassend und vor allem schnell. „Wikiwiki“ eben, das bedeutet „schnell“ auf Hawaianisch. So erfand Ward Cunningham bereits 1995 ein Datenbanksystem, das von jedem Nutzer verändert und ergänzt werden kann. Daraus entstand vor vier Jahren das ehrgeizige Wikipedia-Projekt – die frei verfügbare Wissensdatenbank zu allen denkbaren Bereichen, die immer wieder durch das beigetragene Wissen der Leserschaft ergänzt wird und die allen im Internet frei zur Verfügung steht.

In 100 Sprachen

Inzwischen gehört Wikipedia nach Angaben seines Gründers Jimmy Wales zu den 50 populärsten Websites der Welt und hat mehr Zugriffe als zum Beispiel die New York Times. Trotz Partnerschaften mit Internetfirmen wie Yahoo oder Google soll die Wikipedia-Stiftung unabhängig bleiben. Auch in ihrem Umfang übertrifft die Datenbank längst jede mehrbändige Enzyklopädie, mit 2,2 Millionen Artikeln in über 100 Sprachen und Dialekten. Nach den USA mit 660.000 Artikeln bietet das deutsche Wikipedia-Portal mit 260.000 Beiträgen das größte Angebot.

Das ist weit mehr, als sich die Gründer vor vier Jahren erträumt haben, und im Mittelpunkt der 1. Internationalen Wikimania Konferenz, zu der rund 450 Teilnehmer aus mehr als 50 Ländern am letzten Wochenende nach Frankfurt am Main kamen, standen dann auch die Herausforderungen, denen sich die Wiki-Bewegung in der Zukunft stellen muss.

Dabei sind die Pläne der Wikipedia-Gemeinde nicht gerade bescheiden: Bis 2015 soll es für praktisch jede Sprache eine kostenlose Internet-Enzyklopädie geben, verkündete Gründer Wales. Nicht ganz unwichtig ist dabei die besondere Bedeutung des Wörtchens „frei“. Wales geht es nicht nur darum, dass man einen Artikel wie in einem Lexikon nachschlagen kann, sondern ihn auch verändern und den eigenen Bedürfnissen anpassen dürfe.

Genau dies ist aber meist mit Rücksicht auf das Urheberrecht oft nicht möglich. Nach seiner Meinung werden jedoch in den nächsten Jahren viele Dinge frei im Netz erhältlich sein, darunter Lexika, Wörterbücher – aber auch Reproduktionen von Kunstwerken sowie Landkarten. Spannend wird die Antwort auf die Frage, inwieweit die etablierten Printverlage diesem frommen Wunsch nachkommen werden.

Wales führt den riesigen Erfolg auch auf den „Spaßfaktor“ zurück. Die meist in Gruppen organisierten Freiwilligen hätten einfach Lust am Aufbau der Enzyklopädie nach dem Prinzip: „Jeder kann kommen und mitmachen“, wobei jeder Beitrag eines Neulings von der jeweiligen Gemeinschaft genau auf seine Qualität geprüft werde.

Vorteil als Nachteil

Doch genau das ist der Haken in der ansonsten wunderbaren Wiki-Welt: Oft bleiben fehlerhafte Beiträge wochenlang unkorrigiert, weil erst mal niemand den Fehler bemerkt – oder die meist aus Fachleuten bestehende Wiki-Gemeinde ellenlange Diskussionen anzettelt, weil der Beitrag belanglos, tendenziös, unwissenschaftlich, politisch inkorrekt oder sonst wie daneben sei. Zwar darf jeder Nutzer Änderungen vornehmen und Störenfriede haben keine Chance – aber das ändert nichts am Problem. Wikipedia-Beiträge sind oft nicht in der klinisch reinen wertneutralen Sicht geschrieben, die man von klassischen gedruckten Enzyklopädien gewohnt ist. Dafür sind sie oft aktueller und erschöpfender, als es etwa Bill Gates’ konkurrierende Online-Enzyklopädie „Microsoft Encarta“ je sein könnte.

Gefürchtet wird die digitale Konkurrenz inzwischen sogar von einem Verlag wie Brockhaus, der seit 200 Jahren das Wissen im deutschsprachigen Raum verwaltet. Auf Papier, wie auch die neue 30-bändige Ausgabe, die im September erscheinen und 2.400 Euro kosten soll.

Für eine Internet-Abfrage dieses Wissens – man ist ja nicht von gestern – kassiert Brockhaus pro Stichwort 65 Cent. Ein weiteres Argument für Wikipedia, denn dort wird man zum Mitmachen, nicht zum Zahlen eingeladen. Wer weiter zweifelt, kann Beiträge zur Sicherheit noch mal im Internet nachrecherchieren – und bei Google als Erstes wieder auf Wikipedia-Texte stoßen.