Ein Staat soll sich neu gründen

ISRAEL Gershom Gorenberg – Historiker, Journalist, orthodoxer Jude und einer der renommiertesten Nahostexperten – sieht die israelische Demokratie in Gefahr

Eines der wichtigsten Bücher zum Nahostkonflikt, das in den letzten Jahren publiziert wurde

VON MICHA BRUMLIK

Der vorläufig letzte Versuch, den zionistischen Traum zu retten, stammt aus der Feder eines heute israelischen Staatsbürgers, der vor 35 Jahren aus den USA eingewandert ist und mit Argumenten gegen seine Verzweiflung anschreibt. Gershom Gorenbergs 2011 in New York unter dem Titel „The Unmaking of Israel“ erschienenes Buch hat es nicht verdient, in Anlehnung an Thilo Sarrazin betitelt zu werden. Gleichwohl liegt mit „Israel schafft sich ab“ eines der wichtigsten Bücher zum Nahostkonflikt, das in den letzten Jahren publiziert wurde, vor.

Die Bilanz der mehr als 40-jährigen Besetzung des Westjordanlandes, die Gorenberg vorlegt, ist desaströs, in allen Details überprüfbar und penibel aus den Quellen belegt; er selbst, orthodoxer Jude und bekennender Zionist, über jeden Verdacht erhaben, ein überkandidelter Linker, selbsthassender Jude oder gar jüdischer Antisemit zu sein. Gemäß seiner Analyse hat das mehr als 40 Jahre währende Besatzungsregime Israels im Westjordanland dazu geführt, dass sich der Staat Israel von einer Demokratie zu einer „Ethnokratie“ wandelt.

Dieser von dem israelischen Geografen Oren Yiftachel in einer bahnbrechenden Studie entfaltete Begriff bezeichnet Regimes, die auf der Expansion hegemonialer ethnischer Gruppen in zunächst anders besiedelte Territorien beruht. „Ethnokratien“ sind weder demokratisch noch autoritär, die politischen Rechte ihrer Bürger und Untertanen aber beruhen auf ethnischem Ursprung und zufälligem geografischen Sitz.

Gorenberg zeigt, ohne einen einzigen Beleg schuldig zu bleiben, wie der israelische Staat seit 1967 das Westjordanland gegen jedes internationale Recht besiedeln ließ, um gelegentlich, der internationalen Öffentlichkeit wegen, Siedlungen, die er selbst verdeckt finanziert hat, publikumswirksam rückbauen zu lassen. Er belegt zudem penibel, wie Israels Armee zunehmend von religiösen Offizieren und ganzen Truppenteilen, die nur noch ihren fundamentalistischen Rabbinern, nicht aber ihren Kommandeuren gehorchen, geprägt wird. Für diese Offiziere, Rabbiner und Soldaten gilt die „Heiligkeit“ des Landes mehr als die Loyalität gegenüber ihrer politischen Führung.

Schließlich erklärt er, wie und warum die wachsende, ebenso kinderreiche wie verarmende ultraorthodoxe Bevölkerung, ohne zionistisch gesonnen zu sein, zum treuesten Verbündeten der amtierenden rechtskonservativen Regierung Netanjahu werden konnte.

Werben für den Rückzug

Vor diesem düsteren Panorama fordert Gorenberg nicht weniger als eine „Neugründung Israels“: „Erstens muss Israel den Siedlungsbau einstellen, die Besatzung beenden und einen friedlichen Weg finden, um das Land zwischen dem Fluss und dem Meer aufzuteilen. Zweitens muss es Staat und Synagoge trennen, den Staat vom Klerikalismus und die Religion vom Staat befreien. Drittens und am grundlegendsten muss es von einer ethnischen Bewegung zu einem demokratischen Staat heranreifen, in dem alle Bürger Gleichheit genießen.“

Damit eröffnet er eine politisch operative Debatte, die als notwendigen Schritt den Rückzug aus den besetzten Gebieten fordert und damit gewaltsame Maßnahmen gegen renitente Siedler. Eine Armee, die das durchführen soll, müsste freilich ihrer politischen Führung uneingeschränkt gehorchen, weshalb Gorenberg als allerersten Schritt die Auflösung aller religiösen Armeeteile fordert.

Für seinen Rückzugsplan werbend, setzt er sich mit all jenen auseinander, die eine „Zweistaatenlösung“ wegen der Faits accomplis der Besiedlung schon aufgegeben haben und perspektivisch für eine binationale politische Einheit werben. Damit wäre nach Gorenbergs Überzeugung nichts gewonnen, entstünde doch „ein Albtraum: ein weiterer Ort auf dem Globus, wo zwei oder mehr Volksgruppen gegeneinander kämpfen, während die Leute mit der besten Bildung oder den besten Beziehungen anderswo Zuflucht suchen“.

Doch wird an dieser – durchaus nicht unbegründeten – Warnung die konzeptionelle Schwäche des analytisch sonst so brillanten Buches deutlich: Der Autor bleibt jeden Hinweis schuldig, auf Basis welcher gesellschaftlichen und politischen Mehrheiten eine israelische Regierung die Siedlungen rückbauen und die Siedler rückführen könnte. Der historischen Rekonstruktion des Verfalls der israelischen Demokratie entspricht keine soziologische Analyse der israelischen Ethnokratie und ihrer, wie Gorenberg selbst nachgewiesen hat, tiefsitzenden gesellschaftlichen Verankerung.

Dann aber fragt sich, ob eine illusionslose Aufgabe des hohl gewordenen Mantra der „Zweistaatenlösung“ am Ende nicht doch weiterführt. Nicht von ungefähr hat einer der bedeutendsten palästinensischen Intellektuellen, der Philosoph Sari Nusseibeh, jüngst gefordert, Israel möge die besetzten Gebiete endlich annektieren.

Gershom Gorenberg: „Israel schafft sich ab“. Campus Verlag, Frankfurt am Main 2012, 316 Seiten, 19,99 Euro