Die sozialistische Sesamstraße

KLASSE KIND Generationen von Berliner Kindern sind mit dem Grips Theater aufgewachsen. Jetzt feiert das bekannteste Kinder- und Jugendtheater der Welt 40. Geburtstag. Ein Gripskind erinnert sich

Das weltweit nachgespielte Musical „Linie 1“ war für das Grips Theater Fluch und Segen zugleich

VON PHILIP MEINHOLD

Als ich vier war, begann die Berliner CDU sich Sorgen um mich zu machen. Es war im Frühjahr 1975, und ich ging das erste Mal ins Theater. Im Grips Theater sah ich „Mensch Mädchen!“, ein Stück über Emanzipation und Rollenbilder: Drei Mädchen behaupten sich gegen einen Jungen – bis sie sich schließlich zusammentun, die Kleidung tauschen und in der Rolle des anderen Geschlechterklischees erfahren. Zu Hause verkleidete ich mich als Mädchen und malte ein Bild, das ich bei meinem nächsten Theaterbesuch Grips-Gründer Volker Ludwig schenkte, der am Einlass die Karten abriss.

Die Berliner CDU war weniger begeistert von dem jungen Kinder- und Jugendtheater. Der Steglitzer CDU-Stadtrat Friedrich verbot ein Gastspiel von „Mensch Mädchen!“ in seinem Bezirk, da Grips-Mitarbeiter sich in der „kommunistischen Szenerie der Stadt“ tummelten. Bald waren Grips-Aufführungen in allen CDU-regierten Bezirken verboten. Im Abgeordnetenhaus beantragte die Partei, dem Theater die Subventionen zu streichen und den Besuch von Schulklassen zu verbieten. Der Vorwurf: „kommunistische Indoktrination“ wehrloser Kinder. Das Grips, so schrieb das Springer-Blatt Berliner Morgenpost, züchte mit seinen Stücken „einen Haufen politischer Psychopathen heran, arme Typen, die eines Tages an sich selbst zerbrechen werden. Vorher werden sie noch anderes zerbrochen haben.“ Uns Kindern war das egal. Wir ahnten nichts von den uns prognostizierten Problemen und sangen weiter Liedzeilen mit wie: „Wäre das nicht fabelhaft: Mein und Dein wird abgeschafft!“

Das Grips begleitete uns durch unsere Kindheit und Jugend. Jedes neue Stück war Pflichtprogramm, manche sahen wir mehrere Male – mit den Eltern, der Schule, auf einem Kindergeburtstag. Die Plakate zierten die Wände meines Kinderzimmers, die Programmhefte wurden gesammelt. Auf den Platten aus dem Wagenbach Verlag lauschte ich den Hörspielversionen der Stücke. Meine heimlichen Helden waren jedoch die Bühnenarbeiter, die ein Regal im Handumdrehen in einen Tisch verwandeln konnten oder aus zwei Kisten einen Tresen bauten. Der erste Traumberuf meines Lebens: Bühnenarbeiter im Grips.

In den Stücken ging es um Kinderprobleme: um Schulstress, Scheidung und Schlafengehen, um prügelnde Väter und putzsüchtige Mütter, um Kinder- oder Ausländerfeindlichkeit. Antiautoritär, solidarisch, emanzipatorisch, links: Mit dem Grips hatte die Kinderladenbewegung ein Theater bekommen. Bereits 1966 hatte sich der Vorläufer der Bühne gegründet, das „Theater für Kinder im Reichskabarett“. Am 17. Mai 1969 begann mit der Premiere von „Stokkerlok und Millipilli“ die eigentliche Geschichte des Grips. „Im Kindertheater sahen wir die uns gemäße Form sinnvoller Zielgruppen- und Basisarbeit“, schreibt Volker Ludwig im etwas verqueren Jargon eines Alt-Achtundsechzigers. „Wir nahmen Partei für die unterdrückte Klasse der Kinder.“ Und so ist das bekannteste Kinderlied des Theaters nicht nur ein Song über das Älterwerden, sondern auch von der Utopie einer linken Bewegung: „Wir werden immer größer, jeden Tag ein Stück. Wir werden immer größer, das ist ein Glück!“

Die Inszenierungen glichen einer Mischung aus Sesamstraße und sozialistischem Realismus – nicht immer ganz große Kunst, dafür waren sie mitunter zu sendungsbewusst, und schon als Kind musste man sich an jene Grips-typischen peinlichen Momente gewöhnen, die einen für das spätere Gucken der Lindenstraße trainierten. Dafür kam man immer stärker aus dem Theater heraus, als man hineingegangen war. Gestählt für Familie und Schule. „Mutmachtheater“ ist denn auch Ludwigs Lieblingsbegriff für das Grips. Die heimliche Message der Stücke und ihrer stets optimistischen Enden: „Die Welt ist veränderbar – hier und jetzt!“

Im Alter von dreizehn, vierzehn dann – den Kinderaufführungen entwachsen – fingen wir an, in die Jugendstücke zu gehen: in Leonie Ossowskis Drama „Voll auf der Rolle“, in dem es um Rechtsextremismus ging; in das historische Pendant „Ab heute heißt du Sara“, die Theaterfassung von Inge Deutschkrons Autobiografie; schließlich in das erste Erwachsenenstück des Theaters: „Eine linke Geschichte“, die Geschichte dreier Studenten, die sich 1966 auf einer Vietnam-Demo treffen und deren Lebenswege der Zuschauer bis in die Jetztzeit verfolgt. Ein Stück angenehm selbstironischer Biografie-Arbeit der Achtundsechziger-Bewegung – und Geschichtsunterricht für nachrückende Generationen wie die unsere. Ein Schulfreund und ich waren von den Requisiten des Stücks so begeistert, dass eine Freundin sie uns bastelte: Ich bekam eine Krawatte im Design der amerikanischen Flagge, mein Freund eine rote Faust, die man statt eines Sterns auf den Weihnachtsbaum setzen konnte. Wir waren vielleicht nicht die, vor denen uns unsere Eltern immer gewarnt hatten (schließlich waren sie es gewesen, die uns ins Grips geschleppt hatten) – aber vermutlich genau die, die die CDU 1975 vorausgeahnt hatte.

Schließlich, 1986, das erfolgreichste Stück des Theaters: das Musical „Linie 1“. Weltweit nachgespielt, von Reinhard Hauff verfilmt, bis heute auf dem Spielplan des Grips. Die Geschichte eines Mädchens aus der Provinz, das am Bahnhof Zoo ankommt und in der U-Bahn-Linie 1 Berlin in all seinen Facetten kennen lernt. Die skurrilen, beängstigenden, rührenden Songs wie die von den „Wilmersdorfer Witwen“ wurden zu Klassikern, die Berliner Band Beatsteaks landete mit einer Coverversion von „Hey du“ noch zwanzig Jahre später einen Chart-Erfolg (und gerade erst hat Sido sich desselben Songs für seine aktuelle Single bedient). Das Musical war Fluch und Segen zugleich für das Grips: Einerseits sicherte der Erfolg das finanzielle Überleben der Bühne, andererseits wurde sie ab jetzt an dem Stück gemessen. Und Volker Ludwig knappste wohl einige Zeit an dem Druck, eine neue „Linie 1“ zu verfassen. Nicht umsonst schenkt er sich und seinem Theater zum anstehenden Jubiläum eine musikalische Revue mit dem Titel „Linie 2 – Der Alptraum“, ein ironisches Spiel mit der eigenen Geschichte und musikalischen Highlights aus 40 Jahren.

Dafür hagelte es von nun an Preise und Lob anstelle von Anfeindungen. Es gebe in Berlin nur zwei bedeutende Bühnen, erklärte CDU-Generalsekretär Landowksy: die Schaubühne und das Grips. Von der Berliner Morgenpost gab es 1996 den Friedrich-Luft-Preis, im selben Jahr den Sonderpreis des Deutschen Kulturpreises – die Schirmherren hießen Stoiber und Kohl. Und im vergangenen Jahr bekam der 72-jährige Grips-Gründer Ludwig den Deutschen Theaterpreis für sein Lebenswerk.

Doch trotz des omnipräsenten Theaterchefs: Das Grips ist auch die Geschichte seines Ensembles. Schauspieler wie Dietrich Lehmann oder Thomas Ahrens blieben dem Theater über Jahrzehnte treu und wurden zu Grips-Legenden. Andere wie Axel Prahl oder Dieter Landuris konnte man hier zu Beginn ihrer Karrieren sehen. Und ein junger Darsteller namens Heinz Hönig begann seine Laufbahn ausgerechnet in jenem Stück, mit dem auch meine Grips-Geschichte begann: mit „Mensch Mädchen!“ im Jahr 1975.

Besucht man heute das Grips Theater, so gleicht das einer Reise in die eigene Kindheit und Jugend: Einlass ist 15 Minuten vor Beginn, dann drängen die Zuschauer durch die Türen, um sich einen der unnummerierten Plätze zu sichern. Alles wie seit 40 Jahren: die nach drei Seiten offene Bühne, die sich wie eine Arena zwischen den Zuschauerbänken befindet, das minimalistische Bühnenbild, die Band auf einer Empore dahinter. Die Ansage des Kartenabreißers, doch bitte zusammenzurücken, man sei heute ausverkauft. Dann wird es dunkel und das Stück beginnt.

6. 10. Premiere „Friends4Eva“; 16. 10. Premiere „Linie 2 – Der Alptraum“