Wieder Singen lernen

DAS SCHLAGLOCH von MATHIAS GREFFRATH

Keynes sah die Verwirklichung seines Traums in drei Generationen kommen – also bald

Wozu noch Jubiläumsartikel? Hat das Adorno-Jahr Auswirkungen auf die Bewusstseinsindustrie gezeitigt? Haben die poppigen Schillerfeiern zur „ästhetischen Erziehung“ beigetragen? Glaubt irgendjemand, das Brechtjahr werde zu einer Renaissance sozialistischer Dramatik führen? Und so blättern wir nicht ohne Bedenken, nur erzwungen durch Unlust an Wahlkampf und Wertedebatten über Neue Bürgerlichkeit, in einem Text, der vor 75 Jahren geschrieben wurde.

Im Juni 1930 flog John Maynard Keynes nach Madrid, wo er einen Vortrag über die weltwirtschaftliche Bedeutung der aktuellen Depression halten sollte. Im Flugzeug überlegte er es sich anders, schrieb ein paar Notizen auf einen Zettel und überraschte seine Zuhörer mit einer Rede über die „wirtschaftlichen Möglichkeiten unserer Enkel“. Das wären, nach der soziologischen Zeitrechnung, also die Fünfzehnjährigen von heute.

Keynes streifte die Große Krise nur kurz. Sie sei, so merkte er lakonisch an, nur der erste Schub einer neuen Krankheit: „technologisch verursachte Arbeitslosigkeit“, die dadurch entsteht, dass „unsere Entdeckung von Mitteln zur Einsparung von menschlicher Arbeit schneller voranschreitet als unsere Fähigkeit, neue Verwendung für die Arbeit zu finden“. Sie sei ein Übergangsphänomen – Zeichen dafür, „dass die Menschheit auf lange Sicht dabei ist, ihr ökonomisches Problem zu lösen“.

Kapitalbildung und Wissenschaft würden binnen weniger Generationen die zivilisatorischen Bedürfnisse aller Menschen befriedigen können, und die Produktion von überflüssigem Luxus, der vor allem der Distinktion diene, werde allmählich absterben, weil die Menschen, in Sicherheit lebend, „ihre Kräfte zukünftig auf nicht-ökonomische Zwecke richten“ können, sich dem Nächsten, der Kultur, der Muße zuwenden. Allerdings – und nun kam das große Aber – müssen wir der Heraufkunft dieser menschlichen Kulturgesellschaft zunächst mit Furcht entgegensehen.

Der allseits gebildete Bürger Keynes, der ein Vermögen erspekuliert, sich als Publizist, Theaterintendant, Mäzen, Kunstsammler und Staatsbeamter umgetan hat, des weiteren eine Wochenzeitung gründete und die schönste Primaballerina Londons heiratete, wusste, was Arbeit ist. Und er wusste auch, welche Voraussetzungen die Muße braucht. So sah er für die Zeit des allgemeinen Überflusses eine schwere geistige Krise voraus. Zu lange habe der Industrialismus die Menschen dazu erzogen, „nach etwas zu streben und nicht etwas zu genießen“. Keynes Metapher für den notwendigen Lernprozess hieß: „Wir werden wieder lernen müssen, wie man singt.“

Menschen ohne ausgebildete Begabungen würden es schwer haben, „weise, angenehm und gut“ und in Muße zu leben – umso mehr, als die Geldeliten ihnen nichtsnutzigen Luxus vorlebten und in der „halbkriminellen, halbpathologischen Neigung“ zum „Geldbesitz als solchem“ gefangen seien, statt Geld und Produktivität als „Mittel für die Genüsse und echten Dinge des Lebens“ zu begreifen. Für eine längere Übergangszeit würden die Menschen so, getrieben vom alten Erwerbsinstinkt und aus Furcht vor der Leere, lieber irgendeine Arbeit tun, als den neuen Reichtum an Zeit zu genießen. Einen Reichtum, von dem Keynes sich nicht vorstellen konnte, dass die Bevölkerungen seine ungleiche Verteilung, die Spaltung in überarbeitete Angestellte und zwangspassive Arbeitslose, tolerieren würde. „Wir werden“, so schrieb er, „die übrig gebliebene notwendige Arbeit so weit wie möglich auf alle Schultern verteilen. Mit Dreistundenschichten oder einer Fünfzehnstundenwoche“ könnte der Übergang in die Mußegesellschaft beginnen.

Keynes sah die Verwirklichung seines Traums in drei Generationen kommen. Vielleicht würde es auch ein wenig länger dauern, denn vor dem bürgerlichen Paradies stünde noch die Pflicht der frühindustrialisierten Welt, die armen Länder zu entwickeln. Nach seiner Kalkulation würden die heute etwa Fünfzehnjährigen den Übergang noch erleben und erarbeiten.

Was fangen wir nun 2005 an mit diesem beiseite geschriebenen Text des genialen Ökonomen, der die Weltbank und den IWF gründete und mit ihrem heutigen Wirken nicht sehr einverstanden sein dürfte? Die „objektive Möglichkeit“ eines Reichs der befreiten Zeit, die Keynes vor zweieinhalb Generationen sah, so wie später Marcuse und Gorz, ist dünner geworden. Die Übervölkerung der Erde und die ökologische Krise sind hinzugekommen, und mit dem Konsumismus, der den falschen Überfluss zur Norm macht, hat er ebenso wenig gerechnet wie mit den Medien, die vom „echten Leben“, wie der Bildungsbürger Keynes es sich vorstellte, in Scheinwelten ablenken.

Nur drei Generationen trennen uns von Keynes – und eine kulturelle Wasserscheide. Der bürgerliche Common Sense, seine Vorstellung vom Ziel der ganzen Anstrengungen, zeigt sich heute nur noch unter der Narrenkappe der „glücklichen Arbeitslosen“, einen Fortschrittsbegriff wie Keynes haben heute nur noch Punks. Die große Hoffnung auf Bildung ist dahin, wo Politiker ihren Nutzen vorwiegend darin sehen, die „mentalen Voraussetzungen für die Erneuerung Deutschlands“ im Weltwirtschaftskrieg zu schaffen. Und wer heute Konsumkritik betreibt, qualitative gar, der gilt als genussfeindlicher geistiger Pol Pot, bestenfalls als schwer zurückgebliebener Konservativer.

Und dennoch: die Ideen haben ein zähes Leben, nicht nur auf Kirchentagen. Im jüngst erschienenen, wunderbar humorvollen Roman „Sweet Sixteen“ von Birgit Vanderbeke grassiert eine merkwürdige soziale Epidemie: nach und nach nehmen tausende Sechzehnjährige ironisch cool die teuren, aber nichtsnutzigen Geburtstagsgeschenke made in China in Empfang, ihren Eastpack-Rucksack auf die Schulter, gehen zur Schule und verschwinden anschließend spurlos, unter Hintanlassung ihrer Handys, um mit einigen Monaten Verzögerung Kaufhäuser, Hamburger-Ketten, Großkinos oder öffentliche Protzbrunnen gewaltlos unbrauchbar zu machen, oder aus den Briefkästen ihrer Eltern Rechnungen und Steuerbescheide verschwinden zu lassen. Das führt zu größeren Komplikationen – und dazu, dass der Unfugsparagraf aus dem Ordnungswidrigkeitenrecht heraus- und in das Strafgesetzbuch hineingenommen wird.

Einen Fortschritts-begriff wie John Maynard Keynes haben heute nur noch Punks

Mehr soll hier über Keynes’ Enkel nicht verraten werden, aber was da passiert, ist eine gewisse Rechtfertigung für Jubiläumsartikel. Je preisgegebener und zeitenthobener, desto wirksamer sind die bürgerlichen Werte vielleicht in ihrer Wirkung auf den nachwachsenden Sinn für Ordnung und für Widrigkeit. Nicht nur die von Keynes: Montesquieu etwa hat dieses Jahr auch noch Jubiläum. Wenn die Gewaltenteilung nicht mehr funktioniert, ist alles verloren, schrieb der vor ein paar hundert Jahren. Das ist ein höchst aktueller, potenziell folgenreicher Gedanke, wenn es um die EU, die nächsten Wahlen, die Bertelsmann-Stiftung oder Berlusconi geht. Postmoderne heißt, nach Keynes, eben auch: „Es kann nicht schaden, wenn wir maßvolle Vorbereitungen für unsere Bestimmung (d. i. als Weltgesellschaft) treffen, indem wir sowohl die Lebenskunst wie die zweckhaften Handlungen fördern und uns in ihnen üben.“

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Mathias Greffrath lebt als Publizist in Berlin.