Die zweifelhaften Bilder des kalifornischen Paradieses

MODERNE Ein Essay über das Glücksversprechen von Los Angeles und den Verrat an ihm: „Sunset Boulevard“ von Kevin Vennemann

Es gibt ein Bild von Andreas Gursky, das „Los Angeles“ heißt. Der untere Bildrand sowie die obere Hälfte des Fotos sind schwarz wie die Nacht, in dem schmalen Streifen dazwischen erstreckt sich, aus dem Dunkel kommend und sich im Dunkel des Horizonts verlierend, ein wie an einem Gitternetz ausgerichtetes Lichtermeer.

Gurskys Bild zeigt die in Planquadraten angeordnete Metropole bei Nacht, inszeniert L. A. aber zugleich als einen Ort der Aufklärung, die sich hier vielleicht treffender mit ihrem englischen Begriff bezeichnen lässt: Enlightenment. Das imposante Bild zeigt, was L. A. auch ist: ein Emanzipations- und Glücksversprechen an die gesamte Menschheit, ein geschichtsloses Versprechen.

Es reicht eine einzige Leiche, um dieses Glücksversprechen zu konterkarieren. Kevin Vennemanns gerade eben erschienenes Buch „Sunset Boulevard“ beginnt mit einer Wasserleiche, die im Pool einer Prachtvilla in Los Angeles schwimmt. „Sunset Boulevard“, so heißt auch der L. A.-noir-Klassiker von Billy Wilder, dessen Eröffnungsszene Vennemann hier nacherzählt und in der der bereits tote Joe Gillis von seinem eigenen Tod berichtet. Und so, wie Gillis von seinem eigenen Tod erzählen kann, so versucht auch Vennemann, dem kalifornischen und überhaupt dem modernen Glücksversprechen eine Stimme nach dessen Tod –schon im zweiten Kapitel flirren die Leichenberge der Shoah durch den Text – abzuringen. Dass wie aus dem Nichts die Shoah auftaucht, irritiert. Das Buch behauptet allerdings keine objektive Relation zwischen Film noir und der Shoah, es reflektiert vielmehr einen Bilderhaushalt, der irgendwie nicht anders kann, als immer wieder die Shoah aufzurufen.

Den ehemals verheißungsvollen Weg nach Westen einzuschlagen, wie es der in New York lebende Vennemann tut, ist da nur schlüssig, liegen im Westen doch die zweifelhaften Bilder des kalifornischen Paradieses. Dem Buch geht es um den Verrat, den diese exklusiven Bilder an sich selbst und am Versprechen der Moderne verüben, aber auch um den Verrat, den die Realität permanent an ihnen verübt.

Vennemann, dessen Roman „Nahe Jedenew“ zu einem der großartigsten Bücher des vergangenen Jahrzehnts gehört, schreibt hier in erster Linie ein wissenschaftliches Essay. Das Feld für die in diesem angesiedelte Ich-Erzählung muss er sich daher erst mühsam bestellen: Nachdem er unzählige Filme gesichtet, eingeordnet oder schlichtweg aufgezählt hat, beginnt er endlich zu erzählen. Alles läuft auf ein Treffen Vennemanns mit dem weltberühmten Architekturfotografen Julius Shulman hinaus, den Vennemann mit all den wütenden Fragen löchern möchte, die ihm beim Betrachten von dessen Bildern durch den Kopf schießen. Bildern, in denen die Geradlinigkeit der Häuser mit dem strengen Straßenraster von L. A. harmoniert, die aber dennoch jeden politischen Gehalt der modernen Architektur auslöschen: „Ob er, Shulman, mir erklären könne, wo genau in diesem Bild wohl stecke, dass jene dekorativen Lichterkettenboulevards von unterhalb des CSH #22 bis weit nach Süden und hinein nach South Central reichen, wo zur Zeit der Aufnahme, 1960, seit Jahrzehnten bereits schwelt, was sich in naher Zukunft zu den Watts Riots ausweiten wird?“

Auf Gurskys Bild gehen die Lichterkettenboulevards in einen undefinierbaren Lichtschein am Horizont über. In diesem ist nach der Lektüre von Vennemanns Buch auch das monströse Verbrechen der Moderne, die Shoah, auf unheimliche Art anwesend. „Sunset Boulevard“ wirkt auf die Bilder zurück, und das muss ein Buch erst einmal hinbekommen.

JESKO BENDER

Kevin Vennemann: „Sunset Boulevard. Vom Filmen, Bauen und Sterben in Los Angeles“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2012, 186 Seiten, 14 Euro