„Word“ wird’s schon richten

Die große Rechtschreibreform war überflüssig. Die Schüler wären auch mit den alten Regeln weiter zurechtgekommen. Und als Erwachsene schreiben sie sowieso anders – nämlich wie Microsoft will

VON GERT G. WAGNER

Wenn Schüler keine Noten in Rechtschreibung bekämen, wäre die Sache mit der Orthografie ganz einfach: Für Millionen von Menschen sind im Alltag die gültigen Rechtschreibregeln schlicht und einfach diejenigen, die der automatischen Rechtschreibprüfung des Textverarbeitungsprogramms „Word“ zugrunde liegen. Was „Word“ nicht moniert, wird akzeptiert. Dies gilt auch für professionelle Handwerker des Schreibens – vermutlich nicht nur für den Autor dieses Artikels.

Wer „Word“ benutzt, muss sich keine Gedanken machen, in welchen Fällen man „ss“ schreibt und in welchen „ß“. Auch das Auseinander-Schreiben von Worten ist kein Problem: „Word“ motzt – oder auch nicht.

Über die Probleme, die der Rat für Rechtschreibung noch wälzt, muss man sich im Alltag des Schreibens keinen Kopf machen: also Getrennt- und Zusammenschreibung („kennen lernen/kennenlernen“) und Silbentrennung („A-bend/Abend“). Und erst recht nicht bei der Zeichensetzung (freiwilliges Komma bei Infinitiv sowie bei mit „und“ verbundenen Sätzen). Hier darf im Moment sowieso Toleranz geübt werden: Jeweils beide Versionen sind zulässig. Am besten wäre, wenn dies auf Dauer so bliebe.

Für nahezu alle Schreiber ist die Rechtschreibung nur ein Instrument, um das man sich nicht weiter kümmert, solange es funktioniert. Insofern besteht eigentlich nie ein Anlass für eine offizielle Rechtschreibreform. Denn im Alltag entwickelt sich mit der gesprochenen und geschriebenen Sprache auch die Rechtschreibung allmählich weiter. Vornehmer ausgedrückt: Sprache und Rechtschreibung entwickeln sich evolutionär. Dabei ist es – so lehrt die Erfahrung – unvermeidbar, dass im Laufe von Jahrzehnten und Jahrhunderten auch innerhalb desselben Kulturkreises die gesprochene und geschriebene Sprache sich kräftig verändert und es Mühe macht, entsprechend alte Texte zu lesen. Realistisch betrachtet: Seitdem Zeitungen nicht mehr gesetzt und von spezialisierten Korrekturlesern auf Orthografie geprüft werden (das machen heute mit Ausnahme der taz die Redakteure zusammen mit dem Computer), hat die ästhetische Bedeutung der Rechtschreibung im Alltag faktisch nachgelassen. Ob man will oder nicht (im Übrigen wird auch nur noch selten so gut sprachlich redigiert wie bei der taz).

Diesen „Kulturverfall“ – wenn er denn einer sein sollte – hält keine Rechtschreibkommission auf. Im Gegenteil: Man hat den Eindruck, dass Rechtschreibräte die Neigung haben, von oben herab (top down, wie man heute gerne sagt) das Tempo der Rechtschreibentwicklung unnötig zu beschleunigen – und damit nicht nur den „Kulturverfall“, sondern auch Probleme bei Schülern und vor allem Lehrern.

Eine Sprache gehört sicherlich zu einem bestimmten Kulturkreis dazu. Aber sie ist trotzdem nur ein Instrument und folgt – in die Zukunft gerichtet – keinem höheren Ziel. Zumal die Sprachwissenschaft – zumindest bislang – nicht sagen kann, welche Rechtschreibung uns wirklich leichter fällt. Insofern sind alle Regeln, die Schreibräte für Schulen vorgeben, völlig normativ, also willkürlich. Solange wir uns – unter freundlicher Mithilfe der von „Word“ gesetzten Regeln – verständigen können, funktioniert die Rechtschreibung offensichtlich. Die große Rechtschreibreform war überflüssig. Die Schüler wären auch mit den alten Regeln weiter zurechtgekommen. Als Erwachsene schreiben sie sowieso anders – nämlich wie WORD es will.

Mit dem Aussetzen der Reform durch die großen Länder Bayern und NRW ist die Situation jetzt auf den ersten Blick grotesk. Immerhin führt sie aber – vom Rechtschreibrat nicht gewollt – zu mehr Liberalität: Alte und neue Regeln gelten weiterhin. Warum lassen wir es nicht dabei und machen den „Schwebezustand“ permanent? Zumal sogar in Österreich, das die Reform scheinbar durchzieht, Lehrer bei einigen Regeln auch im neuen Schuljahr weiterhin Toleranz walten lassen. Die alten Schreibweisen sind für Schüler genauso richtig wie die neuen.

Wenn die alten und neuen Regeln parallel gelten, wird auch die Mobilität von Schülern und Eltern zwischen Bundesländern nicht behindert. Lediglich die Lehrer müssen mehr Regeln als in der Vergangenheit beherrschen. Zumal die Behörden zwar verpflichtet sind, mit dem 1. August 2005 auf die neue Rechtschreibung umzustellen. Tun sie dies aber nicht, hat das freilich keine Auswirkungen: Auch Bescheide mit Rechtschreibfehlern sind voll und ganz gültig.

Prof. Gert G. Wagner lehrt Volkswirtschaft an der Technischen Universität Berlin und ist Mitglied im Wissenschaftsrat.