„Puristisch religiöse Vision“

Der Islamismus ist kein Kampf der Kulturen. Seine Wurzeln liegen im Scheitern der Reformen im Nahen Osten, sagt der Kulturanalytiker Ian Buruma

INTERVIEW DANIEL BAX

taz: Herr Buruma, Sie sind niederländischer Staatsbürger, haben aber zuletzt in London gelebt. Sehen Sie Parallelen zwischen den Anschlägen in London und dem Mord an dem Filmemacher Theo van Gogh in Holland vor einem halben Jahr?

Ian Bumura: Man könnte sagen, dass Mohammed Bouyeri, der den Anschlag auf Theo van Gogh verübte, der erste europäische Staatsbürger war, der einen islamistischen Terroranschlag in Europa verübt hat – in diesem Fall auf eine einzelne Person. Das Attentat in London folgte dem gleichen Muster: Die Täter, die dahinterstanden, waren britische Staatsbürger, die in Großbritannien geboren und aufgewachsen waren.

Sie waren aber nicht überrascht, dass die Täter britische Staatsbürger waren?

Überrascht nicht. Beunruhigt aber schon.

Wie erklären Sie, dass die Briten im Unterschied zu den Niederländern vergleichsweise gelassen auf die Anschläge reagiert haben?

Ich weiß nicht, ob das so zutrifft. Die offiziellen Reaktionen von Tony Blair und anderen mögen ruhig und besonnen gewesen sein, aber bis zu einem gewissen Grad waren sie das in Holland auch. Der Bürgermeister von Amsterdam hat nicht anders gesprochen, als Tony Blair das heute tut. Aber es gab auch in England gewalttätige Übergriffe auf Muslime in der Woche nach dem ersten Anschlag. In London mag die Lage okay sein. Aber auch in Amsterdam ist es nach dem Anschlag auf Theo van Gogh ruhig geblieben. Die Übergriffe fanden an anderen Orten statt, in der Provinz.

Die Debatte über Multikulturalismus, wie die in Holland, ist auch keineswegs illegitim. Eine berechtigte Kritik an der liberalen Linken lautete ja immer, dass sie diese Debatte nie geführt hat. Es wurde immer als selbstverständlich vorausgesetzt, dass Multikulturalismus eine gute Sache ist. Und jeder, der das kritisierte, galt als Rassist. Das ist jetzt vorbei. Die Debatte, die gegenwärtig stattfindet, ist gesund.

Was wäre denn die Alternative zur bisherigen Politik?

Mehr Anstrengungen zu unternehmen, dass sich die Leute assimilieren, ohne notwendigerweise ihre Kulturen und Traditionen auszugrenzen. Mehr Anstrengungen, um sicherzustellen, dass die Bürger eines Landes auch dessen Sprache kennen und langsam integriert werden als Bürger mit vollen Rechten – und nicht als vernachlässigte Outsider. Das Problem vieler europäischer Ländern ist, dass die Menschen sich selbst überlassen werden. Was die Einwanderung heute von den Integrationsmustern früherer Zeiten unterscheidet, ist, dass viele Marokkaner in Holland oder auch viele Türken in Deutschland sich Frauen aus ihren Herkunftsländern suchen – selbst wenn sie in Europa aufgewachsen sind. Oft lernen diese Frauen die Sprache ihres neuen Landes nicht, und so assimilieren sich auch ihre Kinder nicht richtig. Wir sollten verstärkt überlegen, wie diese Menschen intensiver am gesellschaftlichen Leben teilnehmen und zu wirklich gleichberechtigten Bürgern werden können – ohne dabei alle kulturellen Unterschiede einzuebnen.

Ist das nicht eine sehr europäische Perspektive? Sie leben ja in New York, der multikulturellen Metropole schlechthin. Auch dort gibt es viele ethnische Minderheiten, die sich stark voneinander abschotten und an orthodoxen Vorstellungen festhalten. Man redet deswegen schon lange nicht mehr vom Melting Pot, sondern von der „Salad Bowl“.

Es geht nicht darum, Kulturen zu verbieten. Sondern darum, eine gemeinsame Basis, einen common ground zu finden, Eine gemeinsame Kultur, Institutionen und Gesetze, an denen jeder teilhaben kann. In den USA ist es einfacher als in Europa, sowohl das eine als auch das andere zu sein. Man kann zu Hause spanisch sprechen oder arabische Speisen kochen und trotzdem ein guter amerikanischer Staatsbürger sein. Die US-Staatsbürgerschaft ist kulturell neutral. Das bedeutet: Die Verfassung achten, die US-Politik kennen und loyal zur Flagge stehen – alles Dinge, die man in Europa eher absurd findet. Man kann ein guter Amerikaner sein und gleichzeitig die eigene Kultur pflegen. In Europa ist es dagegen häufig so: Entweder du bist Deutscher, oder du bist es nicht.

Die Niederlande und Großbritannien waren doch insofern dem amerikanischen Beispiel am nächsten, als sie sich relativ offen gegenüber Immigranten gezeigt haben. In England können Sikhs ihren Turban und Musliminnen ihr Kopftuch als Polizeibeamte sogar im Dienst tragen. In Deutschland oder Frankreich wäre das unmöglich. Trotzdem ist offensichtlich etwas schief gelaufen.

Dass etwas schief gelaufen ist, bedeutet noch nicht zwangsläufig, dass der Multikulturalismus gescheitert ist. Das ist eine Überreaktion. Die Leute haben einfach nur nicht die Probleme durchdacht, die infolge der kontinuierlichen Einwanderung entstanden sind, ohne die Neuankömmlinge angemessen zu integrieren. In Amerika dagegen wird alles gemacht, um die Leute vom ersten Moment an zu gleichberechtigten Staatsbürgern zu machen. Weiter kommt dazu, dass es in den USA kein so entwickeltes Sozialsystem gibt. Jeder ist gezwungen, am Wirtschaftsleben teilzunehmen. Wer das nicht tut, geht unter. In Europa dagegen kann man vom Wohlfahrtsstaat abhängig werden, ohne sich in das Wirtschaftssystem einzuleben. Das mag seine Vorteile habe. Aber es macht es für Immigranten schwieriger als in den USA, sich zu integrieren.

Warum sind es vor allem junge Muslime, die solche Anschläge wie die in London verüben?

Der Islamismus ist eine revolutionäre Bewegung, die eine puristische religiöse Vision verfolgt. Aber es macht keinen Sinn, darin einen Kampf zwischen dem Islam und dem Westen zu sehen, weil es solche klar abgrenzbaren kulturellen Einheiten nicht gibt.

Die Attentäter von London, wohin gehören sie?

In allen Fällen waren die Eltern nicht besonders religiös und sicher nicht besonders glücklich über das, was ihre Söhne getan haben. Diese Söhne haben zuerst versucht, sich anzupassen. Erst später haben sie sich zur Zerstörung einer Zivilisation entschlossen, von der sie das Gefühl hatten, sich nicht in sie integrieren zu können. Was diese jungen Männer getan haben, war zugleich eine Revolte gegen ihre Väter. Sie verüben ihre Taten im Namen einer Kultur, die nicht die ihrer Eltern ist.

In Ihren Büchern haben Sie stets den universalistischen Standpunkt in den Vordergrund gestellt – im Gegensatz zu einer kulturalistischen Perspektive, die die Gegensätze zwischen Kulturen betont. Gibt es für Sie gar keinen Unterschied zwischen einer Endzeitvision der japanischen Aum-Sekte und den apokalyptischen Endkampf-Fantasien von al-Qaida?

Natürlich gibt es Unterschiede. Aber es gibt gemeinsame Elemente: Es gibt zum Beispiel ein Feindbild, das allen gemeinsam ist. Wenn ich für einen universalistischen Blick plädiere, dann meine ich damit nicht, dass man kulturelle Faktoren ignorieren sollte. Sehen Sie: Faschismus und Nationalsozialismus wollten alle Zivilisation zerstören und an deren Stelle nichts als Kultur setzen. Das war desaströs. Aber es kann genauso desaströs sein, alle Kultur im Namen einer universellen Zivilisation zu zerstören, wie es im Kommunismus versucht wurde. Es geht darum, eine Balance zwischen partikularen Kulturen und universeller Zivilisation zu finden. In dieser Hinsicht hat Amerika, auch wenn viele andere Dinge im Argen liegen mögen, das erfolgreichste Modell hervorgebracht. Man kann sich auf universalistische Prinzipien berufen – das Gesetz, die Verfassung –, und man kann an seiner partikularen Kultur fest halten. Europäer haben damit ein Problem, weil sie die politischen Institutionen ihrer Länder als etwas Kulturelles betrachten, statt es als etwas Universelles zu sehen.

Was hat der traditionelle Islam mit dem neuen Islamismus zu tun, warum konnte die islamistische Bewegung so eine starke Kraft werden?

Wenn es einen Grund gibt, dann hat er weniger mit dem Islam zu tun als mit der arabischen Welt. Diese Bewegung hat ihren Ursprung schließlich nicht in Indonesien oder Indien genommen, auch wenn es dort natürlich viele Islamisten gibt. Die Wurzeln des Islamismus liegen im Scheitern säkularer politischer Bewegungen im Nahen Osten. Einer der Gründe dafür, dass liberaldemokratische Systeme in der arabischen Welt keine Wurzeln schlagen konnten, liegt darin, dass Demokratie nicht ohne einen funktionierenden Nationalstaat etabliert werden kann. Für eine Demokratie braucht es einen Demos: Leute, die sich als Teil einer gemeinsamen politischen Ordnung verstehen. Diese Tradition gibt es aber nicht in der arabischen Geschichte. Die Ausnahme in der islamischen Welt waren die Türken und die Perser: Sie hatten sehr wohl eine gewisse nationalstaatliche Tradition. Das ist vielleicht der Grund, warum sie mehr Erfolg damit hatten, ein demokratisches Modell zu etablieren.

Sie haben in der New York Review of Books das Buch „Terror and Liberalism“ von Paul Berman besprochen. In Ihrer Rezension haben Sie sich skeptisch gezeigt, dass sich die Demokratie im Irak ebenso erfolgreich etablieren lasse wie in Deutschland und Japan nach dem Krieg. Warum?

Der Grund für den Erfolg in Japan und Deutschland war, dass man nicht bei null anfangen musste. Es gab bereits eine Elite und liberale demokratische Institutionen, an die man anknüpfen konnte. Es war also hauptsächlich eine Frage des Wiederaufbaus, und man konnte diese Aufgabe zu großen Teilen den Deutschen und Japanern selbst überlassen; Leute wie Adenauer und Schumacher waren dazu in der Lage. Das ist eine ganz andee Ausgangssituation als die Idee, die Marines irgendwohin zu schicken, um ein Regime zu stürzen und dann bei null zu beginnen.

Demokratie im Irak, ist das ein aussichtsloses Unterfangen?

Vielleicht nicht unmöglich, aber sehr riskant. Die Leute hegen eben starke Abneigung gegen Ausländer, die mit fremden Truppen eine Revolution von oben installieren wollen – das führt zu enormen Ressentiments. Und die Amerikaner haben alles getan, um die Lage noch schwieriger zu machen.

Waren Sie ein Gegner des Irakkriegs?

Nicht grundsätzlich. Wenn man bedenkt, was für ein brutales Regime dort herrschte, dann ist jeder Versuch, es zu stürzen, moralisch nur schwer zu verurteilen. Ich war jedoch dagegen, weil ich ihn für unüberlegt hielt. Und weil ich der Meinung bin, dass eine Demokratie nicht in den Krieg ziehen sollte, ohne ihren Bürgern genau zu erklären, aus welchem Grund. Der Irakkrieg war moralisch nicht falsch, aber eine sehr unkluge Entscheidung.

Wenn Sie die jüngsten Diskursfronten betrachten: Auf der einen Seite alte Linke wie Tariq Ali oder Noam Chomsky, die noch immer die USA für alles Übel der Welt verantwortlich machen, auf der anderen Seite ehemalige Linke wie Paul Berman, die im Namen des Liberalismus einen Kulturkrieg anzetteln wollen – sehen Sie sich manchmal als den letzten Liberalen?

Vielleicht bin ich etwas altmodisch. Ich bin gegen jeden „Kulturkampf“. Aber ich glaube nicht, dass ich allein bin.