Das Comeback der Hauptschule

Die starken bayerischen Haupt- und Realschulen tragen entscheidend zum Sieg des Freistaates im nationalen Pisa-Test bei. Die CSU sieht das gegliederte Schulsystem bestätigt, doch Kritiker werten dies als Indiz gegen die frühe Auslese. Denn fast die Hälfte der Nichtgymnasiasten ist fit fürs Gymnasium

AUS MÜNCHEN JÖRG SCHALLENBERG

Na endlich: Bayern ist nicht nur Spitze, sondern „Weltspitze“. So superlativierte zumindest Edmund Stoiber flugs die Ergebnisse seines Freistaates beim zweiten Pisa-Test. Wer will ihm den notorischen Größenwahn in diesem Falle verdenken, wo doch die bayerischen 15-Jährigen in den Disziplinen Mathematik, Naturwissenschaften, Lesen und Problemlösen offenbar noch dichter an Pisa-Spitzenreiter wie Finnland und Kanada herangerückt sind – und die anderen Bundesstaaten wieder mal hinter sich gelassen haben.

Die wahre Glanzleistung von Stoiber und seinem Bildungsminister Siegfried Schneider besteht aber darin, diagnostizierte Schwächen des bayerischen Schulsystems plötzlich als geheime Stärken umzudeuten. Immer wieder hatten Kritiker die hohe soziale Selektivität im Freistaat bemängelt, die dazu führt, dass ein Kind aus einer Facharbeiterfamilie bei gleicher Intelligenz eine sechsfach geringere Chance hat, ein Gymnasium zu besuchen, als ein Kind aus der Oberschicht. In Baden-Württemberg, dem Zweitplatzierten der im Jahr 2003 durchgeführten Pisa-Studie, ist dieser soziale Unterschied nur etwa halb so hoch. Zudem verzeichnet Bayern neben dem Saarland die niedrigste Abiturientenquote – nur jeder fünfte Schüler eines Jahrgangs erwirbt die Hochschulreife auf dem Gymnasium.

Doch was soll’s, befand in der vergangenen Woche der bayerische Kultusminister: „Das Gymnasium ist nicht alles.“ Und so lobte der ehemalige Grund- und Hauptschullehrer Schneider die Haupt- und Realschulen über den grünen Klee. Gerade in ländlichen Gebieten hätten Absolventen ohne Hochschulreife beste Aussichten auf eine gute Lehrstelle und müssten sich keinem „Verdrängungswettbewerb“ mit Abiturienten stellen.

In der Tat ist die starke Hauptschule einer der wichtigsten Faktoren für das hervorragende durchschnittliche Abschneiden der bayerischen 15-Jährigen. Schon der Pädagogikprofessor Jürgen Baumert, Leiter der ersten Pisa-Studie, hat festgestellt: „Eine Hauptschule in Bayern hat nichts mit einer Hauptschule in Mecklenburg-Vorpommern zu tun.“ Denn im Freistaat ist diese Schulform nie zu einer Restverwahrungsanstalt degradiert worden – deren Abschluss oft direkt in die Arbeitslosigkeit führt.

Dementsprechend sind Selbstbewusstsein, Motivation und das Leistungsniveau sowohl bei Schülern als auch bei Lehrern in Bayern wesentlich höher als anderswo. Die im Vergleich zu vielen anderen Bundesländern komfortable Lage auf dem Ausbildungsmarkt bietet den Hauptschulabgängern akzeptable Zukunftsaussichten, der mit 22,4 Prozent relativ geringe Anteil an Migrantenkindern mindert die Sprachprobleme. Dass diese Kinder in Bayern laut Pisa-Daten offenbar besser integriert werden können als in den anderen Ländern, spricht zudem für den Kurs der CSU-Regierung, möglichst früh auf die Sprachförderung zu setzen und dafür zur Not auch erheblichen Druck auf die Eltern auszuüben.

Allerdings werden die genauen Sozialdaten der neuen Pisa-Studie erst im Herbst veröffentlicht. Außerdem lässt das in den Tagen nach Veröffentlichung der jüngsten Pisa-Ergebnisse gefeierte Comeback der Hauptschule – und der Realschule gleich mit – eine wichtige Frage offen: Werden es die vermeintlich so tollen bayerischen Haupt- und Realschüler später in ihrem Berufsleben tatsächlich besser haben als die geschmähten Bremer Gymnasiasten? In der Hansestadt legen immerhin fast zehn Prozent mehr Schüler und Schülerinnen eines Jahrgangs das Abitur ab als in Bayern. Oder bleibt Pisa in dieser Hinsicht eine Momentaufnahme ohne Wert? Leider wird sich dies erst in frühestens zehn bis fünfzehn Jahren seriös beantworten lassen.

Der bayerische Kultusminister Schneider verweist angesichts solcher Zweifel darauf, dass 42 Prozent der Studienanfänger in Bayern die Hochschulreife auf Umwegen über Fachoberschulen und Berufsoberschulen erreicht haben. Diese Zahlen passen wiederum prächtig zu den Befunden der ersten Pisa-Studie, nach denen 40 Prozent der bayerischen Realschüler und vier Prozent der Hauptschüler vom Leistungsvermögen her auch ein Gymnasium besuchen könnten – im Freistaat aber an der rigiden, nur auf die Durchschnittsnote von 2,33 fixierten Auslese nach der vierten Klasse scheitern.

Die CSU preist das gegliederte Schulsystem, in dem man immerhin die Möglichkeit hat, sich von der Hauptschule bis zur Universität vorzuarbeiten. Hingegen fragen Experten wie der Essener Bildungsforscher Klaus Klemm schon lange, ob man sich solche Umwege nicht gleich mit einem Schulsystem sparen könne, in dem erst lange nach der vierten Klasse differenziert werde.

Doch solche Argumente stoßen in Bayern nach wie vor auf taube Ohren. Edmund Stoiber schwadroniert weiter vom „Verlierer-Modell Gesamtschule“ – ungeachtet der Tatsache, dass nicht nur das ferne Finnland, sondern auch das nahe gelegene Südtirol mit einer Einheitsschule bessere Pisa-Werte erzielen als Bayern.