Oberst Bersarin und ein Hinweis

Vor 60 Jahren, kurz nach Ende des Zweiten Weltkriegs, gründete sich die Jüdische Gemeinde zu Berlin neu, angeblich auf Anregung des sowjetischen Stadtkommandanten

In diesem Sommer vor 60 Jahren hat sich in Berlin, wenige Wochen nach dem Untergang der Nazi-Diktatur, wieder eine Jüdische Gemeinde gebildet. „Nach der Befreiung gab es sehr früh Bemühungen, jüdisches Gemeindeleben neu aufzubauen“, sagt Hermann Simon, Direktor der Stiftung Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum. „Schon am 11. Mai 1945 hielt der Prediger Martin Riesenburger einen der ersten jüdischen Gottesdienste nach dem Krieg in der Trauerhalle des Friedhofs Weißensee ab.“

Es entstanden mehrere kleine jüdische Gruppierungen, die sich bereits im Sommer zur Jüdischen Gemeinde zusammenschlossen. „Über diese frühen Anfänge ist allerdings wenig bekannt“, sagt Simon. Ein genauer Termin für die Neukonstituierung lasse sich nicht finden. „Ein Schreiben des Vorstands der Jüdischen Gemeinde vom 12. Dezember 1945 an die Sowjetische Kommandantur gibt aber immerhin einen Hinweis“, erläutert Simon.

In dem Dokument heißt es: „Nach dem Einzug der siegreichen Roten Armee in Berlin hatte Herr Generaloberst Bersarin mit dem … jüdischen Zahnarzt, Herrn Dr. Moritz Blum, im Reichstagsgebäude eine Besprechung, in deren Verlauf Herr Generaloberst Bersarin Herrn Dr. Blum die Anregung gab, die ‚Jüdische Gemeinde zu Berlin‘, die bekanntlich durch das Hitler-Regime aufgelöst worden war, wieder aufzubauen.“

Blum reorganisierte dann mit anderen jüdischen Überlebenden die Gemeinde mit Sitz in der Oranienburger Straße in Berlin-Mitte. „Dass Bersarin den Anstoß zur Neugründung gegeben haben soll, ist anderweitig nicht belegt. So bin ich nicht sicher, ob die Geschichte stimmt oder aus gewissen taktischen Gründen so formuliert ist“, sagt Simon. Nikolai Bersarin, erster sowjetischer Stadtkommandant von Berlin, starb am 16. Juni 1945 bei einem Verkehrsunfall.

Von den rund 160.000 Juden, die 1933 in Berlin ansässig waren, kamen etwa 55.000 durch die Verfolgung der Nazis ums Leben. „Das Schreiben vom Dezember 1945 enthält auch eine erste Zählung der noch in Berlin lebenden Juden“, erläutert Simon. Danach gab es 1945 in der Stadt 7.000 Juden, von denen 1.250 im Untergrund und 4.250 in so genannten Mischehen mit Nichtjuden überlebt hatten. 1.500 kamen aus den Konzentrationslagern. Diese Schicksale spiegelten sich auch im ersten Vorstand der Gemeinde wider. So hatte beispielsweise Erich Nehlhans jahrelang illegal in Berlin gelebt. Der spätere Gemeindevorsitzende Julius Meyer kam aus dem Konzentrationslager Auschwitz.

„Jetzt ging es darum, wieder die Voraussetzungen für jüdisches religiöses Leben zu schaffen“, sagt Simon. So mussten die Synagogen, die in der Pogromnacht am 9. November 1938 von den Nazis in Brand gesteckt und zerstört worden waren, provisorisch hergerichtet werden. Bald gab es in allen vier Berliner Sektoren wieder Gottesdienste. Wichtig war es auch, die überlebenden Juden wenigstens notdürftig mit Obdach und Lebensmitteln zu versorgen. Die meisten hausten unter unbeschreiblichen Bedingungen und waren wegen der jahrelangen Verfolgung und den für Juden in der NS-Zeit besonders knappen Rationen in einem äußerst schlechten Gesundheitszustand.

„Die Gemeinde nahm unter anderem Kontakt mit den Bezirksämtern auf, um Hilfe für diese Menschen zu bekommen. Unterstützung gab es auch von amerikanischen Hilfsorganisationen wie „Joint“ und „UNRRA“. Ständig kamen neue Hilfesuchende unter anderem aus Polen in die Stadt. So fragten etwa ungarische Jüdinnen, die das Vernichtungslager Auschwitz überlebt hatten, in ihrer Verzweiflung beim Jüdischen Friedhof in Weißensee nach.“ Die Gemeinde kümmerte sich auch um die jüdischen Krankenhäuser und Altersheime sowie den Religionsunterricht für jüdische Kinder. Zugleich war die Auswanderung von Juden nach Palästina zu organisieren. THOMAS KUNZE (DPA)