DIE LAST DER FRÜHEN JAHRE

Der Radrennfahrer Jean Nuttli gehörte zu den besten Zeitfahrern der Welt. Keiner trainierte wohl mehr. Nun darf er nicht mehr aufhören damit. Ein Mann strampelt um sein Leben

VON ERWIN KOCH

Weltmeister sei er ohnehin.

Jean Nuttli redet langsam, die Sätze schleifen. Was ich tat, war, um Weltmeister zu werden.

Eines Tages, tröstet die Frau, die neben ihm sitzt, wird wieder ein Törchen aufgehen, gell. Er möchte lächeln. Noch trägt er den Trainingsanzug seines letzten Arbeitgebers, blau und schwarz, der ihn verstieß, Professional Cycling Team Volksbank-Ideal, eine minderklassige Mannschaft aus dem Vorarlbergischen, den Reißverschluss hat er bis zum Hals gezogen; die andern, die einst Kollegen waren, strampeln längst durch Frankreich. Jean Nuttli sitzt im Wohnzimmer der Eltern in Kriens, Kanton Luzern, eine Schüssel Kiwi auf dem Tisch, eine Schale Bananen. Manchmal stiege er am liebsten in sein Auto, gäbe Gas und raste in eine Mauer. Er sagt: Genetisch bin ich ein Phänomen. Und das ist fatal. Könnte ich essen wie die anderen, ich wäre längst Weltmeister. Die Ärzte stehen vor einem Rätsel, sagt die Frau und legt ihre Hand auf seine.

Wenn Sie, Herr Nuttli, einen Wunsch frei hätten – was wünschten Sie sich? Er zögert. Sag!, sagt die Frau. Normal leben, einfach normal leben. Dass ich mein Leben genießen könnte, einmal ein Stück Schwarzwälder Torte essen, ohne mir Gedanken zu machen, dass man nachher wieder ein Kilo mehr auf den Rippen hat. Er isst ja nichts, isst nur Früchte, Obst und das Gemüse, das ich ihm koche, sagt die Frau, die jeden Morgen um halb acht ins Haus kommt, putzt und kocht und Jean Nuttli davon abhält, sich ins Auto zu setzen.

Ich bin Weltmeister im Zunehmen, sagen wir es mal so, sagt er. Ein Blatt, anderthalb Jahre ist es her, nannte ihn Radclown. Weil er so schweigsam ist und anders. Und einst doppelt so schwer war. Die Last der frühen Jahre hat ihn berühmt gemacht. 125 Kilogramm. Es waren mehr, sagt die Putzfrau neben Nuttli, die auch Köchin ist, Trösterin, Pressesprecherin, eine ehemalige Wirtin, achtfache Mutter, die im Dezember 2004 las, wie schlecht es Jean Nuttli erging, dem Berufsradfahrer aus Kriens, der eben zum dritten Mal gescheitert war bei seinem Versuch, im Lauf einer Stunde weiter zu kommen als Jacques Anquetil, Eddy Merckx, Miguel Indurain, Chris Boardman. Sie rief die Mutter des Glücklosen an, sagte: Wenn ich helfen kann, dann helf ich gern. Es waren 125 Kilo, knurrt Nuttli.

Herr Nuttli, was ist Ihre schönste Kindheitserinnerung? In der Schule hatte ich immer Mühe, vor allem mit dem Schreiben, mit dem Lesen, ich habe schlechte Erinnerungen, aber es war trotzdem eine schöne Zeit.

Jean Nuttli, geboren am 2. Januar 1974, begann in der Primarschule, wechselte in eine Sonderschule, dann in die Real, fuhr als Junior für den Veloclub Rothenburg, er fiel nicht auf. Er wurde Lehrling bei Ford Willy, Autolackierer, quälte sich durch die Berufsschule, ein ruheloser Bub, der plötzlich an Gewicht zunahm, in manchen Wochen drei, vier Kilo. Er wurde Arbeiter des Vaters, Autospritzwerk Nuttli AG. Am Ende ertrug Jean Nuttli den eigenen Anblick nicht mehr. Die Mutter, die sein Leiden sah, erstand ihm ein Rad aus Karbon, 14.000 Franken teuer, die Gabel verbog sich, als Jean Nuttli in Pfaffnau, Kanton Luzern, ein Mittwochabendrennen bestritt, die Zuschauer lachten und lärmten, er stieg vom Gerät und schob es bergauf. So wollte ich nicht mehr, sagt er und kratzt sich die Haut von den Fingern.

Am 1. August 1996, 125 Kilo schwer, begann er seine Verwandlung. In einem Zimmer unter dem Dach stellte er das Fahrrad auf Rollen, auf einen so genannten Ergometer, und begann zu strampeln, Stunde um Stunde, den starren Blick auf eine kleine Anzeige am Lenker gerichtet, Puls, Geschwindigkeit, Widerstand, stundenlang, acht Stunden lang, er schaute nicht aus dem Fenster, nicht an die Wand, an der die Bilder von Boardman und Indurain hingen, er strampelte, trat und schwitzte, bis das Rad zu rosten begann, bis der Lenker brach, die Rolle verbraucht war.

Bis heute habe er wohl vierzig Rollen zerschlissen und drei Lenker. 330.000 Kilometer fuhr ich auf Rollen, sagt Jean Nuttli. Ich kann in einer Stunde vier Liter Flüssigkeit verlieren, ich kann eine Stunde lang mit 190 Puls fahren, aber ich darf keine Kohlenhydrate essen. Weil ich sofort zunehme. Das ist genetisch, würde ich mich gehen lassen, wäre ich in zwei Monaten doppelt so schwer. Die Managerin sagt: Hunger hat er wie jeder andere, gell?

Nuttli trank nur noch Wasser und Vitamine, an Weihnachten 1996 wog er 68 Kilo, er war dünn und bleich, ein Freund erschrak und schickte ihn zum Arzt, der Arzt erkannte Jean Nuttli nicht mehr.

Sein Körperfettanteil rutschte von 45 auf 11. Nun lachten sie nicht mehr. 1998, als unbekannter Amateur, siegte er zehnmal, in Olten, Riehen, Jona, Wohlen, Embrach, Aeschi, Bernerrundfahrt, Tour de la Broye, 1999 war er Amateur der Elite, gewann abermals die Bernerrundfahrt, siegte in Schattdorf und Bad Zurzach und füllte die Stube der Eltern mit Pokalen und Medaillen. Anfang Juli 2000, beim Grand Prix des Kantons Luzern, fuhr er den Berufsfahrern davon, Jean Nuttli fiel auf, und als vier Monate später der berühmte Alex Zülle nicht zur Weltmeisterschaft nach Frankreich wollte, durfte Jean Nuttli, sechsundzwanzig Jahre alt, Hobbyfahrer. Nie zuvor war er allein in einem Flugzeug gewesen, noch nie so weit weg von Kriens. In Paris, Charles de Gaulle, verpasste er den Anschlussflug, er sprach kein Französisch, rief zu Hause an, dann die Mannschaftsleitung in Plouay, er zitterte, abends um halb acht erreichte er endlich das Hotel und setzte sich, um sich zu beruhigen, eine Stunde lang auf die Rolle. Am anderen Morgen war Streckenbesichtigung. Kettenriss, Nuttli stürzte, sah das Ende der Piste nicht. Nachmittags das Rennen, ein Zeitfahren über 57 Kilometer, die Besten der Welt. Jean Nuttli war Schnellster nach 5,6 Kilometern, auf allen Abschnitten bei den Besten. Dann. Dreihundert Meter vor dem Ziel, statt geradeaus zu fahren, folgte er dem Motorrad, das ihn begleitete, fuhr auf einen Parkplatz. Jean Nuttli drehte um, strampelte, wurde Elfter, Sensation. Das laute Blatt schrie: Nuttli: Ohne Bauch immer schneller.

Er zieht den Reißverschluss zum dünnen Hals. Wäre diese WM eine Woche später gewesen, wäre ich jetzt Weltmeister, sagt er. Eine Woche später, beim Chrono des Herbiers, schlug ich den frischen Weltmeister Gontschar, schlug ich den Olympiasieger Jekimow, so gut war ich in Form, fuhr einen neuen Streckenrekord und verbesserte ihn das Jahr drauf um drei Sekunden.

Das Blatt meldete: Jetzt will er den Stundenweltrekord … Wenn bei einer Rundfahrt, sagt Jean Nuttli, alle nur fünfhundert Kalorien zu essen bekämen, auch Armstrong und Ullrich, dann würde ich die Tour de France gewinnen. Weil ich seit bald zehn Jahren mit fünfhundert Kalorien täglich auskommen muss.

Letztes Jahr, bei der Österreichrundfahrt, 1.100 Kilometer über alle Berge, eine Woche lang, war ich nachher vier Kilo schwerer als zuvor. Weil ich mit den Kollegen gegessen hatte, vielleicht ein Fünftel von dem, was die aßen. Dann hieß es wieder: Abspecken. Immer heißt es: Abspecken. Seit ich denken kann: Abspecken. Die Frau legt ihre Hand auf seine. Sie sagt: Jean, Schatz. Vor einem Jahr aß ich einmal mit den Kollegen eine Pizza, ich trank ein Bier. Nach 24 Stunden war ich fünf Kilo schwerer – von 77 auf 82.

Jean Nuttli, nach seiner Explosion bei den Weltmeisterschaften in Frankreich, wurde Berufsfahrer, Mitglied einer Mannschaft namens Phonak Hearing Systems. Er wurde Schweizer Meister im Einzelzeitfahren, gewann in Les Herbiers, gewann die vierte Etappe der Tour de Poitou-Charentes, gewann die Classic Broye.

Und immer dachte er daran, die Unsterblichen zu schlagen, im Lauf einer Stunde weiter zu kommen als einst Merckx, Indurain und Boardman. Boardman war am 27. Oktober 2000 auf einer Bahn in Manchester 49,441 Kilometer weit gefahren.

Auf dem Ergometer eines Sportarztes strampelte Jean Nuttli zur Probe, Serien von je drei Minuten, 23 Stufen bis 760 Watt, 746 Watt gleich eine Pferdestärke. Nuttli strampelte, trat, bis die Elektronik zersprang: 800 Watt, 90 Pedalumdrehungen in der Minute. Das Blatt jubelte: Dieser Mann ist stärker als ein Pferd!

Dann aber, sagt Jean Nuttli, musste ich bei jedem Scheißrennen mitmachen, ich war nun bei der französischen Mannschaft Oktos, konnte kein Französisch, musste jedes Scheißrennen mitmachen, einmal da, einmal dort, ständig im Auto, musste zehn Kilo abspecken, das ganze Jahr über kam ich nicht richtig in Form.

Bei den Weltmeisterschaften 2002 in Zolder wurde er Dreiundzwanzigster. Aber sein Traum war der Stundenrekord. Deshalb fuhr er Rad. Jean Nuttli, 68 Kilo, 178 Zentimeter, trat an, sie alle zu schlagen, Anquetil, Merckx, Indurain, Boardman. Ein Freund, der ihn begleitete, hatte ihm ein spezielles Rad entworfen, mit besonders flachem Steuerwinkel, das ihm half, genau auf der schwarzen Linie einer Radrennbahn zu fahren. Um weiter zu kommen als jeder Mensch zuvor, müsste Nuttli, Veloclub Rothenburg, die Pedale, bei einer Übersetzung von 57x15, 6.240-mal treten, 7,98 Meter pro Tritt.

Bordeaux, Freitag, 15. November 2002. Ein Arzt stand an der Bande, ein Sportwissenschaftler, ein Betreuer, ein Masseur. Vieles war berechnet. Während der ersten zwanzig Minuten würde Nuttli die 250 Meter der hölzernen Bahn in 18 Sekunden durchmessen. Um in den folgenden zwanzig Minuten auf 18,15 Sekunden zu verlangsamen, dann, während der letzten zwanzig Minuten, auf 18,20. Ergibt eine Strecke von 49,521 Kilometern. 80 Meter weiter als Boardman.

Er sitzt am Tisch neben der Frau, die ihm jeden Tag Gemüse kocht, ohne Fett, ohne Salz, und sagt: Schon in der Schule, wenn ich einen Vortrag halten musste, vergaß ich alles, vergaß jedes Wort. Das war so, das ist so. Bin ich allein, fahre ich besser, am besten bin ich auf der Rolle, allein im Zimmer unter dem Dach, wo die Großmutter schläft. Jetzt, zehn Minuten vor der Wahrheit, 14.50 Uhr, steht Jean Nuttli in der Mitte von Journalisten und Kameras, sie reden und reden, und Nuttli weiß keine Antworten, er sagt, er widme den Rekord der Großmutter, die nun neunzig werde, dann sucht er den Helm, wo ist der verdammte Helm, wo die Brille? Sie reden und stellen Fragen, Lichter blitzen, Nuttli zittert und steigt auf das Rad mit dem besonders flachen Steuerwinkel.

Das war in der Schule schon so, sagt die Köchin.

Nach zwanzig Minuten holten sie Nuttli von der Piste. Zwecklos, ihn länger fahren zu lassen. Einige klatschten. Nuttli zog den Helm aus und setzte sich auf die Rolle und strampelte, um sich zu beruhigen, er wollte nicht weinen, Nuttli sagte: Ginge es nach mir, ich hätte nicht aufgehört.

Nuttli blieb kleben, schrieb das Blatt, Weltrekordversuch abgebrochen! Am nächsten Tag, 15 Uhr, versuchte er es wieder und kam auf 47,093 Kilometer. Nicht Welt-, aber Schweizer Rekord. Im Flughafen Lyon rief Jean Nuttli die Mutter an, er schrie und weinte und zitterte, er sagte, er mache sich kalt. Er schrie, bis der Betreuer ihn umfasste und zu Boden drückte. Nachts um zwei erreichte Jean Nuttli das Dorf Kriens, die Mutter suchte zu trösten, auf dem Tisch lag das Blatt: Nuttli hat ausgeträumt – spritzt er wieder Autos? Er las: Sein Paradies bleibt der Keller, wo er kraftvoll wie ein Ackergaul den Hometrainer malträtieren kann. Bis der Ergometer den Geist aufgibt. Das ist Nuttlis Welt.

Zehn Tage später, in ebendiesem Blatt, rechnete Jean Nuttli ab. Mit Oktos, seiner Mannschaft, wolle er nichts mehr zu tun haben. In den Verpflegungssäcken seien vergammelte Brote gewesen, die Getränkeflaschen ungewaschen, er, Nuttli, habe die ganze Zeit unter Durchfall und Bauchweh gelitten.

Jean Nuttli wechselte zu Volksbank-Ideal, Vorarlberg, gewann einen Prolog in Kroatien, die Rundfahrt durch Brandenburg, wurde, nach Reifendefekt, Zehnter beim Grand Prix des Nations, Zweiundzwanzigster bei der Weltmeisterschaft in Kanada.

Meinen Beruf kann ich nicht ausüben, weil ich krank bin, sagt er. Normale Radprofis haben ihren Hämatokritwert, das ist der Anteil der roten Blutkörperchen im Blut, bei 48, ich nur bei 30 bis 35. Andere Menschen bekommen dagegen EPO verschrieben. Bei mir geht das nicht, weil ich Berufsfahrer bin und EPO auf der Dopingliste ist. Eigentlich müsste mir der Radsportweltverband EPO erlauben, damit ich dieselben Chance habe. Mein Problem ist auch, sagt Jean Nuttli, dass ich eine Neunliterlunge habe und ein Herz, viermal so groß wie ein normales.

Die Putzfrau klagt: Das glaubt dir niemand, aber es ist Tatsach. Die Ärzte sagen es uns. Das kommt vom Trainieren. Und deshalb darf ich nicht aufhören zu trainieren. Das brächte mich um.

Genau, sagt sie, er muss langsam, langsam herunterfahren, sein Körper ist übertrainiert. Das glaubt dir keiner.

O doch, sagt Herr S. am Telefon, Dr. med., der Jean Nuttli sei Monaten behandelt, Herr Nuttli ist ein medizinisches Phänomen, er hat ein Stoffwechselproblem, isst Herr Nuttli eine Menge von 1.500 Kalorien, muss er rund fünf Stunden hart trainieren, damit er nicht zunimmt an Gewicht. Isst er 1.200 Kalorien, braucht er drei Stunden. Einer normalen Arbeit kann er nicht nachgehen, eine normale Arbeit macht ihn krank, körperlich, seelisch.

Weltmeisterschaften 2004, Bardolino, Italien, Jean Nuttli wurde Siebenundzwanzigster. Alles misslang. Auch sein dritter Versuch, im Lauf einer Stunde weiter zu kommen als die Unsterblichen. Mitte Dezember 2004 brachte er es im Wiener Dusikastadion auf 46,642 Kilometer, weniger weit als zwei Jahre zuvor in Bordeaux, den Blättern war Nuttlis Scheitern einen Dreizeiler wert. Volksbank-Ideal verlängerte den Vertrag nicht mehr.

Wenn ich mich gehen lasse, bin ich in zwei Monaten doppelt so schwer. Also muss ich ein Leben lang Sport machen. Ich kann nicht richtig essen, kann nicht arbeiten, muss trainieren. Ein Leben ohne Rekord, sagt Jean Nuttli, das steht kein Normaler durch. Er dreht das Gesicht weg. Sie legt ihre Hand auf seinen Arm. Ich fahre, bis ich sterbe.

Und so steigt Jean Nuttli, einunddreißig Jahre alt, Berufsradfahrer ohne Stelle, jeden Morgen unter das Dach, beugt zweitausendmal den Rumpf, macht fünfhundert Liegestütze, manchmal tausend, wechselt dann ins Schlafzimmer der Großmutter, die meist vor dem Fernseher sitzt, und strampelt eine Stunde lang, Vollgas, rollt dann aus, den starren Blick auf eine kleine Anzeige am Lenker gerichtet, CatEye Cyclosimulator, und schwitzt, bis das Fahrrad rostet, vormittags, nachmittags.

ERWIN KOCH, 49, ist Reporter des Magazins des Tages-Anzeigers und lebt nahe Luzern