„Ich bin ein unkritischer Patient“

ETHIK Rainer Hess hat jahrelang entschieden, welche Medizin für Kranke in Deutschland bezahlt wird. Ein Gespräch über Amputationen, Lebenswillen und eingekaufte Demonstranten

■ Mensch: Hess, Jahrgang 1940, studierte Mathematik und wechselte dann zu Jura. Er hat drei erwachsene Kinder und lebt bei Köln.

■ Positionen: Lange war Hess als Hauptgeschäftsführer der Kassenärztlichen Bundesvereinigung Lobbyist für Mediziner. 2004 wurde er Unparteiischer Vorsitzender des Gemeinsamen Bundesausschusses. Zum 1. Juli geht er in den Ruhestand.

INTERVIEW HEIKE HAARHOFF
UND MATTHIAS LOHRE

Wer Rainer Hess besuchen will, muss Kontrollen überwinden, Türen entriegeln lassen und Durchgänge passieren, die sich durch Codes öffnen. Hess ist der wichtigste Mann im deutschen Gesundheitssystem. Zwar kennt kaum jemand das Gremium, dessen Unparteiischer Vorsitzender er ist – den Gemeinsamen Bundesausschuss. Aber seine Macht ist groß. Für 70 Millionen Versicherte bestimmt er, welche Chemotherapie, welches Insulin, welche Kniegelenksoperation von den gesetzlichen Krankenkassen bezahlt wird – und welche nicht. Das Haus ist deshalb voll von Pharma-Akten; Stoff für Spionage und Einflussnahme. Aber als die letzte Tür sich öffnet, steht da ein Mann mit schlohweißem Haar und bittet an einen kaffeegedeckten Tisch.

sonntaz: Herr Hess, sind Sie gesund?

Rainer Hess: Mir geht es hervorragend. Ich bin jetzt 71 Jahre alt. Ich lasse mich einmal im Jahr untersuchen und bin noch sehr gut in Schuss. Aber wegen meines niedrigen Pulses sagt mein Arzt, dass ich Sport treiben muss. Ich habe mir zu Hause und hier in Berlin ein Rudergerät zugelegt. Ein Leistungssportgerät, auf das ich mich fast jeden Morgen setze und 4.000 Meter rudere.

Warum Rudern?

Das Besondere ist die Harmonie der Abläufe. Beim Rudern haben Sie, anders als etwa beim Tennis, keine stoßhaften, unkontrollierten Bewegungen. Sie setzen Beine, Oberkörper und Arme in gemeinsamem Rhythmus ein.

Aber es gibt da keine Mannschaft, Sie sind allein.

Natürlich ist es reizvoller, auf dem Wasser zu rudern, statt in den Spiegel zu gucken. Der Rhein bei Köln, wo ich herkomme und wohin ich bald im Ruhestand zurückkehre, ist ein wunderbares Ruderrevier aber nicht ungefährlich. Es gibt Strömungen, Klippen und Steinbänke, die man im richtigen Winkel umrudern muss, um nicht in Strudel zu geraten. Aber wenn man es etwas stromaufwärts geschafft hat, kann man sich einfach stromabwärts treiben lassen, wenn man genug hat. Das ist schon toll.

Ihr ganzes Berufsleben lang haben Sie versucht, Klippen und Strudel zu umschiffen – in einem Bereich, in dem jede Innovation neue ethische Fragen aufwirft: dem Gesundheitswesen. Gerade zum Beispiel ist das Erbgut eines Embryos aus Blut der Mutter und Speichel des Vaters rekonstruiert worden.

Solche Angebote, die mit ethischen Fragen belastet sind, wird es immer häufiger geben. Für einige Patienten ist es sicher segensreich, wenn sie nach einem Gentest etwa wissen, dass sie für ein Medikament nicht infrage kommen, weil es bei ihnen nicht wirkt. Das Risiko ist, dass die Tests oft nicht den großen Nutzen für die Behandlung bringen, mit dem sie beworben werden. Und das Wissen über Veranlagungen kann den Wissenden psychisch stark belasten. Aber man wird letztlich niemanden hindern können, es sich zu verschaffen.

Doch. Sie könnten sagen: Die Kassen zahlen diese Tests nicht. Zumal sie auch sehr teuer sind.

Anders als das etwa in England üblich ist, darf der Gemeinsame Bundesausschuss solche Entscheidungen nicht allein aus Kostengesichtspunkten treffen. Und auch nicht nur, weil ethische Bedenken bestehen – eine solche Argumentation wäre Sache des Parlaments.

Worum geht es dann, wenn nicht um Kosten und Ethik?

Der Gemeinsame Bundesausschuss wägt immer A gegen B ab: Welchen Nutzen hat zum Beispiel ein Test für den Einzelnen, verglichen mit Diagnoseverfahren, die es gibt? Ist der Test sinnvoll für die Behandlung oder geht es nur um den Selbstzweck? Wenn wir etwa bei einem genetisch bedingten Darmkrebs ein Krebsmedikament als nützlich einschätzen, dann zahlt die Solidargemeinschaft natürlich nicht nur das Präparat, sondern auch den dazugehörigen Gentest. Unabhängig davon, wie viel Therapie und Test kosten.

Also: Alles, was nutzt, soll für alle zugänglich sein?

Ja, aber eben wie in diesem Fall immer begrenzt auf die Patientengruppe, für die die Leistung – zum Beispiel der Gentest – wirklich einen Zusatznutzen hat. Dahinter steckt die Grundannahme, auf der unser Gesundheitssystem basiert und hinter der ich uneingeschränkt stehe: Jeder Mensch hat das Recht, darüber aufgeklärt zu werden, was er braucht, um eine eigenständige Entscheidung treffen zu können.

In einigen Bereichen werden kaum Leistungen komplett von der Kasse übernommen, zum Beispiel beim Zahnersatz. Heißt das, Zähne sind unnütz?

Deutschland ist aufgrund einer Entscheidung des Bundessozialgerichts weltweit eines der wenigen Länder, welches Kosten für Zahnersatz als Zuschuss übernimmt.

Kann es sich die Gesellschaft bei einer Medizin, die fast täglich Fortschritte macht, noch lange leisten, Kranken alles Sinnvolle zu ermöglichen?

Natürlich geht es um die Zukunft des Systems. 80 Prozent der Versicherten verursachen 20 Prozent der Kosten. Um die müssen wir uns nicht so sehr kümmern. Konzentrieren müssen wir uns auf die 20 Prozent, die 80 Prozent der Kosten verursachen. Ich bin der Meinung, dass wir Kosten senken können, indem wir die Qualität der Versorgung dieser Menschen verbessern.

Klingt salomonisch. Wie soll das funktionieren?

Ein Beispiel: Depressionen. Viele Hausärzte können die Krankheit nicht richtig einordnen, Betroffene gehen zu vielen Ärzten. Es werden mal zu hoch, mal zu niedrig dosierte Arzneimittel verordnet. Das verursacht erhebliche Kosten. Auch das richtige Verhältnis zwischen Medikamenten und Psychotherapie ist ungeklärt. Deshalb müssen wir die Fortbildung der Ärzte verbessern. Aber dafür ist der Gemeinsame Bundesausschuss formal nicht zuständig.

Der Wettbewerb regelt solche Probleme nicht?

Meiner Meinung nach hat der Wettbewerb das System in Deutschland bisher nur verteuert. Das ist meine ganz persönliche Einschätzung. Wir haben ein Überangebot an Leistungen. Zum Beispiel haben wir vor ein paar Jahren die Akupunktur in den Leistungskatalog aufgenommen, weil sie teilweise herkömmlichen Schmerztherapien überlegen war. Jetzt gibt es zu viele Akupunkteure. Wir müssen weniger Einzelentscheidungen fällen und mehr Versorgungsprobleme lösen.

Die Strukturen frustrieren?

Nein, aber es treibt mich um, dringend nötige Änderungen nicht noch selbst in meinen zwei Amtszeiten geschafft zu haben.

Sie haben gern die Kontrolle. Macht es Angst, eines Tages selbst auf die Hilfe und Entscheidungen anderer angewiesen zu sein?

Ich habe neulich meine 96-jährige Tante im Krankenhaus besucht, sie hatte eine gebrochene Hüfte. Ich wünsche mir so ein Leben nicht. Aber Menschen wollen weiterleben. Das schmale Leben, das sie noch haben können, begehren sie. Ich weiß nicht, wie es bei mir sein wird, wenn es so weit kommt.

Ob Sie diese künstliche Hüfte oder jene Magensonde überhaupt noch bekommen wollen?

Ich habe zu Ärzten ein ausgesprochenes Vertrauensverhältnis. Ich verzichte in der Regel auf Aufklärung.

Wie bitte?

Ich möchte keine Aufklärung über alle möglichen Risiken. Für mich kommt es darauf an, einen Arzt zu finden, von dessen Qualifikation ich überzeugt bin und dem ich vertraue. Ich weiß nicht, wie das bei einer ernsten Erkrankung wäre, beispielsweise bei Krebs. Aber ich glaube, meine Haltung bliebe so. Insofern bin ich ein ganz unkritischer Patient.

Würde Ihnen das zusätzliche Wissen Angst machen?

Ja, vielleicht auch Angst. Die entscheidende Frage aber ist: Ist der Eingriff notwendig? Ich lasse nur etwas mit mir machen, das medizinisch alternativlos notwendig ist. Wenn mir dann Diagnose und Therapie klar sind, möchte ich nicht wissen, welche Konsequenzen das noch haben könnte.

Wo sind die Grenzen der Aufklärung? Kann es gerechtfertigt sein, wenn in Familien genetisch bedingter Brustkrebs weit verbreitet ist, auszusprechen: Ihre Tochter wird hochwahrscheinlich in 40 Jahren erkranken? Wodurch Fragen wie die nach einer vorsorglichen Brustamputation auftauchen?

Schon die Vorstellung erschreckt.

Wie wird so etwas in Ihrem Gremium diskutiert?

Einen Verdacht, der aus einer Familiengeschichte resultiert, muss man ernst nehmen – auch im System der Gesetzlichen Krankenversicherung. Wir dürfen nicht sagen, das interessiert uns nicht, wir warten ab, bis das nächste Kind erkrankt. Also stehen Ärzte in der Pflicht, die Familie aufzuklären und je nach Fall auch Gendiagnostik zu empfehlen. Aber einen Eingriff bei einem Kind, das selbst noch gar nicht in der Lage ist, diese Entscheidung zu treffen? Das sehe ich sehr kritisch. Aber das ist eine Wertung, die ich für mich treffe.

Ihr Beruf ist ein Spagat zwischen Moral und handfesten Verbandsinteressen.

Mein ganzes Berufsleben ist geprägt von Interessengegensätzen. Auch als ich noch Justitiar der Kassenärztlichen Bundesvereinigung war, gab es massive Interessengegensätze zwischen Kassen und Ärzten. Wer kriegt welchen Anteil vom Kuchen? In unserer Gesellschaft darf es solche Auseinandersetzungen geben. Ich habe meine Funktion immer im Sinne eines Interessenausgleiches gesehen. Es ist besser, Sie finden einen Kompromiss, als am Ende vor einem Gericht zu landen.

Wie findet man solche Kompromisse im umkämpften Gesundheitswesen?

Mit Verhandlungen natürlich. Manchmal habe ich Sitzungen mehrfach unterbrochen, um immer wieder auszuloten, wie Mehrheiten erreicht werden können, die nicht einseitig alles ablehnen. Und dann muss man sich auch selbst prüfen: Bist du in dieser Angelegenheit interessenmäßig befangen, hast du die nötige Unabhängigkeit?

In einer der emotionalsten Auseinandersetzungen der letzten Jahre ging es darum, welche Krankenhäuser extrem kleine Frühchen versorgen dürfen. Sie haben vergebens um einen Kompromiss gerungen.

Versetzen Sie sich mal in meine Lage! Die Patientenvertreter forderten, dass nur noch Kliniken, die mindestens fünfzig versorgte Frühchen im Jahr nachweisen können, die Versorgung auch weiter übernehmen dürfen. Eine Versorgung, mit der Krankenhäuser pro Patient etwa 60.000 bis 80.000 Euro abrechnen können. Das gibt man nicht so einfach auf. Die Kassen wiederum wollten eine Zahl von 30. Und dann die öffentliche Sitzung. Betroffene Eltern. Die Kassen. Und die Kliniken, die sämtliche Beschränkungen als nicht wissenschaftlich belegt ablehnten. Meine Stimme war die entscheidende. Ich wollte das aber eigentlich gar nicht entscheiden müssen. Nur: Wenn keine Kompromisse möglich sind, dann müssen Sie entscheiden. Das kommt dann aber eher einer Verzweiflungstat gleich.

Wie haben Sie es geschafft, sich nicht auf die eine oder andere Seite ziehen zu lassen?

Letzten Endes habe ich mich immer auf eine Seite ziehen lassen müssen. Der Gemeinsame Bundesausschuss entscheidet ja per Mehrheitsbeschluss. Wir haben die Mindestmenge, also eine Mindestanzahl an versorgten Frühchen pro Klinik, mit einer Mehrheit von sieben zu sechs eingeführt. Da geht es um Kleinstkinder, die ihr Recht noch nicht wahrnehmen können. Und ich war der Überzeugung, dass eine größere Konzentration der Versorgung durchaus zu mehr Qualität beitragen kann. Das bedeutet mehr Erfahrung an einem Ort, auch wenn es natürlich keine absolute Garantie ist.

Sie haben gesagt, wenn es um die Schwächsten geht, müsse notfalls auch eine vergleichsweise dünne wissenschaftliche Datenlage ausreichen.

■ Wer: Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) ist das oberste Beschlussgremium der gemeinsamen Selbstverwaltung der Ärzte, Zahnärzte, Psychotherapeuten, Krankenhäuser und Krankenkassen. Antrags-, aber nicht stimmberechtigt sind Patientenvertreter.

■ Was: Der G-BA legt den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung fest. Seine Richtlinien sind verbindlich für die Krankenkassen, deren Versicherte und die behandelnden Ärzte.

■ Wie: Der G-BA steht unter der Rechtsaufsicht des Bundesgesundheitsministeriums, seine Rechtsgrundlage ist das Fünfte Sozialgesetzbuch.

Das sehe ich heute noch so. Das Landessozialgericht Berlin-Brandenburg hat das anders gesehen – es hat die Entscheidung aufgehoben. Solange dieser Rechtsstreit nicht beendet ist, gibt es keine Mindestmenge.

Hat der Druck auf Sie und den Ausschuss in den vergangenen Jahren zu- oder abgenommen?

Der Druck nimmt stetig zu, auch, weil der Gemeinsame Bundesausschuss durch den Gesetzgeber immer mehr Verantwortung bekommt.

Lassen sich da noch gerechte und nicht korrumpierbare Entscheidungen treffen?

Wenn Sie Interessen offen vertreten – als Arzt, Krankenkasse oder Industrie – und wenn dies dokumentiert ist und es dann zu einem Interessenausgleich kommt, dann ist das keine korrumpierte Entscheidung. Sie beruht auf einer Abwägung der Interessen und ist transparent.

Pharmaunternehmen haben zum Beispiel mehr Geld als etwa Patientenverbände, um ihre Interessen durchzusetzen.

Man darf sich davon nicht zu sehr beeindrucken lassen. Der Protest, welche Intensität er auch erreichen mag, darf nicht die Basis der Entscheidung sein. Wenn sich etwa Briefe häufen, wenn ich 200 gleichförmige Schreiben bekomme, dann weiß ich sofort, dass tatsächlich nur einer dahintersteckt. Mitunter nimmt diese versuchte Einflussnahme schon groteske Formen an. In meiner Zeit bei der Kassenärztlichen Bundesvereinigung ging es einmal um Änderungen bei der Bewilligung der physikalischen Therapie. Da protestierten Demonstranten vor unserem Gebäude. Leute im Rollstuhl wurden herangeschoben. Das muss man dann aushalten. Um dann, am Ende, festzustellen, dass es gar keine Betroffenen waren. Sondern eingekaufte Studenten.

Lesen Sie eigentlich auch mal etwas anderes als solche Patientenbriefe?

Die ganze Familie liest, meine Frau vier Bücher gleichzeitig. Aber ich gebe zu, dass ich kaum noch dazu komme. Und wenn ich ein Buch lese, dann habe ich das in zwei, drei Stunden durch, weil ich alles querlese. Das Schöne kriege ich nicht mit, weil ich nicht den Satz lese, sondern den Inhalt. Sprache zu genießen, muss ich erst wieder lernen.

Im Ruhestand auf dem Lande?

Ja. Wir wollen, solange das bewegungsmäßig geht, in unserem alten Fachwerkhaus bleiben. Ein Schulgebäude mit Obstgarten in der Nähe von Köln, in das wir uns verliebt haben. Wir haben es damals gekauft, weil meine berufstätige Frau und ich Unterstützung der Großmutter bei der Betreuung unserer zwei kleinen Kinder brauchten.

Wir kennen einen Mann, der sagt, Sie seien einer der wenigen, der ihm gegenüber Unterstützung gezeigt habe. Peter Sawicki, der Exchef des Instituts für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen, auf dessen Bewertungen viele Ausschussentscheidungen fußen. Auf Druck der Regierung verlor er seinen Job.

Die Kampagne gegen Herrn Sawicki bestand formal aus kleinen Unstimmigkeiten in Abrechnungen. Es ging unter anderem um Rasenmäherbenzin, das er versehentlich mit dem Benzin für seinen Dienstwagen abrechnete. Das hätte jeder schon bei der Prüfung der Abrechnung sehen können. So etwas dann als Vorwand für die Ablehnung der Vertragsverlängerung zu verwenden, halte ich fast schon für unanständig. Dahinter standen Teile der Politik, und dahinter wiederum die Industrie. Leider hatte die Kampagne Erfolg.

Wie kann man von Unabhängigkeit sprechen, wenn die Industrie sich so durchsetzt?

Totale Unabhängigkeit in der Entscheidungsfindung gibt es nicht. Aber wenn ich all die im Gemeinsamen Bundesausschuss versammelten Interessen zusammennehme und sie auf der Grundlage eines wissenschaftlichen Votums in einem transparenten Prozess ausgleiche, dann bildet das die größtmögliche Annäherung an Unabhängigkeit.

Abstand zu allen Seiten kann auch einsam machen, oder?

Nein, einsam bin ich nun wirklich nicht.

Heike Haarhoff, 42, ist taz- Redakteurin

Matthias Lohre, 36, ist Reporter der taz