„Siedler haben in Israel einen schlechten Ruf“

Die größten Schwierigkeiten hat Scharon mit seinem Rückzugsplan in der eigenen Partei, die Mehrheit der Bevölkerung unterstützt ihn. Die Roadmap will Scharon nicht weiter verfolgen, er hofft auf die Kooperation der Palästinenser

taz: Herr Baskin, wie hat die israelische Öffentlichkeit auf die Auseinandersetzungen zwischen Siedlern und Soldaten letzte Woche reagiert?

Gershon Baskin: Die Reaktion der Öffentlichkeit spiegelt die Ereignisse wider. Über das Wochenende ist die Zustimmung zum Abzug aus Gaza von 52 auf 62 Prozent hochgeschnellt. Das ist eine Antwort auf das extreme Verhalten der Siedler. Je mehr Gewalt sie anwenden, desto weniger Unterstützung bekommen sie von den Israelis.

Wie ist der Ruf der Siedler in Israel?

Die israelische Öffentlichkeit will nicht mit ansehen, wie ihre Soldaten und Polizisten von Siedlern geprügelt oder Straßen blockiert werden. Sie werden als extremistisch, als gefährlich angesehen. Im Allgemeinen haben sie einen schlechten Ruf.

Die Unterstützer der Siedler haben ihre Argumentation verändert: Sie führen nicht mehr nur biblische Gründe an, sondern beziehen sich jetzt auf die orangene Revolution in der Ukraine, sie spielen auf Demokratiebewegungen an. Was hat das zu bedeuten?

Sie sagen, dass der Rückzug zu mehr Terrorismus führen wird und dass er deswegen für ganz Israel sehr gefährlich ist. Sie versuchen damit, aus ihrem persönlichen Anliegen, dass sie nämlich ihr Zuhause verlieren, ein allgemeines Anliegen zu machen, und behaupten, das gehe den Staat Israel, das jüdische Volk als Ganzes an.

Wenn jetzt eine israelische Mehrheit den Rückzug aus Gaza befürwortet, bedeutet das auch eine Unterstützung für einen Rückzug aus dem Westjordanland?

Darüber gibt es noch keine Umfragen, aber ich glaube das nicht. Ich glaube, die Leute wollen erst mal sehen, wie der erste Schritt des Rückzugs abläuft und abwarten, was dann passiert.

Wie hat die Politik auf den Rückzug und die Ausschreitungen letzte Woche reagiert?

Es ist eine schwierige politische Situation. Die größten Schwierigkeiten hat Scharon innerhalb seiner eigenen Partei. Aber er hat für den Rückzug eine Mehrheit sowohl in der Knesset wie in der Regierung, und das wird sich nicht ändern.

Die Armee fühlt sich von der Politik im Stich gelassen, die Politiker lassen sich im Gaza-Streifen nicht sehen. Überlassen sie den Soldaten die Drecksarbeit?

Das stimmt, die machen die Drecksarbeit. Die Regierung hat zwar eine Kampagne gemacht für den Rückzug, aber die Siedler waren im ganzen Land in der Öffentlichkeit sehr sichtbar. Man sieht sie überall. Sie reden von einer orangenen Revolution und binden orangene Bändchen an die Autos. Die Regierung antwortet darauf, indem sie versucht, die Leute zu mobilisieren, dass sie mit blau-weißen Bändchen zur Unterstützung des Rückzugs auf die Straßen gehen, aber die Leute reagieren darauf nicht eben enthusiastisch.

Warum hat Scharon sich überhaupt auf den Rückzug vom Gaza-Streifen eingelassen?

Scharon will der Welt, und insbesondere Amerika, zeigen, dass der Rückzug für Israel sehr traumatisch ist. Damit will er erreichen, dass kein Druck mehr auf Israel ausgeübt wird und dass die Forderungen nachlassen, weitere Schritte bezüglich des Westjordanlands zu unternehmen.

Er hätte doch weitermachen können, ohne sich von irgendwo zurückzuziehen. Warum hat er sich überhaupt darauf eingelassen?

Nein, er konnte nicht so weitermachen. Es gab eine Frustration in der israelischen Öffentlichkeit, dass die Regierung keinen Plan für dieses Problem hatte. Es gab die Genfer Initiative im Hintergrund, und Bush war da mit seiner Roadmap. Scharon musste darauf irgendwie reagieren. Ich denke, das ist eine langfristige Strategie für Israel. Wir können ohne Gaza überleben, und wir können einen demografischen Krieg in Gaza nicht gewinnen. Ich denke, das ist wohlüberlegt.

Der Rückzug aus Gaza wird also nicht ein erster Schritt sein, dem etwa eine Wiederbelebung der Roadmap folgt?

Ich denke, es ist ein Schritt, aber Scharon will die Roadmap nicht weiter verfolgen. Er hofft darauf, dass die Palästinenser nicht mit uns zusammenarbeiten, dass sie auf die Israelis schießen werden, so dass er beweisen kann, dass es keinen palästinensischen Partner gibt. Und dann wird Scharon vielleicht weitere einseitige Schritte im Westjordanland tun, um Israels Position hinter der Mauer zu konsolidieren. Und dann werden etwa 60 Prozent des Westjordanlands den Palästinensern verbleiben.

Und dann?

Unabhängig davon, was Scharon plant, wird sehr wahrscheinlich irgendwann nach dem Rückzug die israelische Regierung stürzen, denn nach dem Rückzug wird die Arbeitspartei vermutlich nicht mehr in der Regierung bleiben. Dann wird es Neuwahlen geben, und dann werden die Karten neu gemischt.

INTERVIEW: ANTJE BAUER