Verkehrte Welt vor dem Gaza-Abzug

Verschwörungstheorien machen unter den jüdischen Siedlern im Gaza-Streifen die Runde. Sie sehen sich nicht nur als Opfer der Palästinenser, sondern auch der israelischen Sicherheitskräfte. Die Extremisten kommen offenbar meist von außerhalb

„Ein Mensch, der in die Enge getrieben wird, setzt sich zur Wehr“

AUS GUSCH KATIF SUSANNE KNAUL

„Das waren keine von uns“, sagt Anita Tucker im Brustton der Überzeugung. Die blonde Mittfünfzigerin baut in Netzer Hasani, der ersten jüdischen Siedlung wenige Kilometer hinter dem Übergang Kissufim zwischen Israel und dem Gaza-Streifen, Sellerie an. Der versuchte Mord an einem 18-jährigen Palästinenser vergangene Woche sei „von der jüdischen Abteilung des Schabak“, des israelischen Nachrichtendienstes, „inszeniert worden“. Dafür spreche schon die Tatsache, dass in der Muasi-Gegend, dem Ort des Zwischenfalls, „noch niemals Steine geflogen sind“. Die Palästinenser lebten bislang friedlich Seite an Seite mit den Juden aus Gusch Katif, dem größten Siedlungsblock im Gaza-Streifen, der ab dem 15. August geräumt werden soll.

Außerdem hätten die israelischen Sicherheitskräfte nichts unternommen, die Steinewerfer zu stoppen, meint Tucker. Deshalb seien dann jüdische Jugendlichen gekommen, „von denen ich hier vorher noch nie einen gesehen habe“. Tatsächlich verhaftete die Polizei Anfang der Woche einen als Rädelsführer des Mobs verdächtigen jungen Mann, der seinen Wohnsitz im Westjordanland hat. Von den noch in Untersuchungshaft Sitzenden kennt Tucker nur „einen jungen, sehr sanften Familienvater, dessen Frau gerade schwanger ist“. Er sei „zufällig“ dabei gewesen, als eine Gruppe von fünf israelischen Extremisten noch mit Steinen auf einen 18-jährigen Palästinenser einschlugen, als der schon bewusstlos war.

Die Verschwörungstheorie einer gezielten Provokation wird unter den Siedlern im Gaza-Streifen als unumstrittene Tatsache gehandelt. Tucker, die trotz der Weigerung der Banken, den Siedlern weitere Kredite zu bewilligen, neue Setzlinge einpflanzt, lebt in einer seltsamen Realität. Nicht die Siedler seien die Gewalttätigen, sondern: „Wir sind die Opfer der Gewalt“, und zwar nicht nur vonseiten der Palästinenser, die „noch immer Raketen auf uns schießen“. Die israelischen Sicherheitskräfte seien es, die alles daran setzten, „uns einzuschüchtern“, sei es, dass sie „brutal eine Autoscheibe einschlagen“ oder „eine Gruppe junger Mädchen, die an der Bushaltestelle warten, zu Boden werfen“.

Friedliche Überzeugungsarbeit, das ist die Devise der Bäuerin, um auf die Regierungspolitik zu reagieren. Zum Beispiel, wenn sie mit den Siedlern solidarische Gruppen aus Jerusalem in Empfang nimmt und durch die Gewächshäuser führt. „Save the Gush“ so heißt die Organisation, die für ganze 60 Schekel (11 Euro) pro Person Touren in die Siedlungen im Gaza-Streifen organisiert. „Ich habe in meinem ganzen Leben noch keinen Stein geworfen“, sagt Tucker und wirkt dabei durchaus glaubwürdig.

Die Extremisten kommen offenbar von außerhalb. Auch die rund einhundert Israelis, die die Polizei Ende letzter Woche aus einem Hotel in Gusch Katif evakuierte, wo sie sich nach mehreren Übergriffen auf die palästinensischen Nachbarn verschanzt hatten. Regierungschef Ariel Scharon, der die jüdischen Immigranten aus den früheren Sowjetstaaten mit Vorliebe im besetzten Land ansiedelte, erklärte den Radikalen den Kampf: „Unter keinen Umständen werden wir einer gesetzlosen Bande erlauben, Kontrolle über das Leben in Israel zu gewinnen.“

Derartige Aussagen empfindet auch Chaim Gross, 30-jähriger privater Sicherheitsmann aus der im südlichen Gaza-Streifen gelegenen Siedlung Morag, als heuchlerisch. Er hegt keinerlei Zweifel daran, dass die Regierung die Lage anzuheizen versucht mit dem Ziel, „die Volksstimmung gegen uns umzulenken“, und deshalb den versuchten Mord vergangene Woche selbst lanciert habe. Die Siedler aus Gusch Katif konzentrierten ihren Kampf vielmehr auf den „gewaltlosen Bürgeraufstand“, Demonstrationen und Straßenblockaden. Das sei zwar für die Betroffenen „nicht angenehm, aber schließlich ist es auch nicht immer angenehm, aus seinem Haus vertrieben zu werden“.

Je näher der Abzugstermin rückt, desto aufgeregter werden indes die Protestaktionen der Siedler. Es sei nur eine Frage der Zeit, so schreibt der Kolumnist Jair Lapid in dem Massenblatt Yediot Achronot, bis es zu Todesopfern kommt. Lapid spricht damit die mit Plastikringen präparierten Nägel an, die die Demonstranten auf den Autobahnen verteilen und so schon hunderte Reifen zum Platzen brachten.

Auch für die gezielt auf die Straßen gespritzten Ölpfützen treffe der Begriff „Gewalt“ trotzdem nicht zu, so der Siedler Gross, höchstens „Hartnäckigkeit“, und die sei angebracht. „Ein Mensch, der in die Enge getrieben wird, setzt sich zur Wehr“, sagt er. Die Hetzparolen der Abzugsgegner richten sich vor allem gegen Scharon, den Initiator des Abzugsplans, der wiederholt ankündigte, dass er durch nichts und niemanden seinen Terminplan durcheinander bringen lassen werde. Aus Sorge vor einem Attentat ließ er sich und die Minister diese Woche mit maßgeschneiderten kugelsicheren Westen ausstatten.