DIE EM AUS GRIECHISCHER SICHT
: Das griechische Dilemma

GEORGIOS PAPPAS

Egal, wer heute Abend siegt: Das emotionale Verhältnis zwischen Griechen und Deutschen wird am Tag danach noch schlechter sein, als es ohnehin schon ist. Als Grieche hat man es inzwischen satt, von Kollegen oder beim Gemüsehändler scheinbar harmlose oder auch offen bösartige Witze über die faulen, sonnenverwöhnten Ouzo-Trinker zu hören. Jetzt müssen wir auch noch die Spielweise der griechischen Nationalmannschaft rechtfertigen, weil sie ein Bollwerk gegen die Deutschen aufbauen werde. Dabei haben die Griechen diese Spielweise ausgerechnet von einem Deutschen namens „Rehakles“ schulmeisterlich gelernt und so erfolgreich angewendet, dass sie 2004 den Titel geholt haben.

In Griechenland soll angeblich alles politisch sein. Der griechische Fußball war es immer. Die großen Vereine, „Olympiakos“ (die „Roten“) und „Panathinaikos“ (die Grünen) wurden seit jeher als politische Instrumente der Wirtschaftsbosse missbraucht. Wettskandale und Gewalt in den Stadien – obwohl die Fans nur jeweils einer Mannschaft das Spiel sehen dürfen – haben seit langem die Freude an der schönsten Nebensache der Welt vermasselt. Das gilt allerdings nicht für die Nationalmannschaft. Sie ist für alle, vom einfachsten Mann bis hin zum Intellektuellen, Projektionsfläche für die Versäumnisse und Träume der Nation.

In Deutschland leben fast 400.000 Griechen, wegen der Krise werden es immer mehr. Aber je seltener die griechischen Fahnen bei den Public Viewings im Vergleich zu 2004 zu sehen sind, desto größer ist die Sehnsucht der Griechen nach einer Erfolgsmeldung im Inland und im Ausland. Da die Aussichten im eigenen Land weiterhin düster sind, bleibt die Hoffnung auf einen Erfolg in der „Euro 2012“. Besonders ein Sieg gegen die Deutschen wäre Balsam für die verletzte griechische Seele.

Der Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hat einen Sieg für die Deutschen vorausgesagt: 3:1. Das würde natürlich den Rausschmiss der Griechen aus der „Euro 2012“ bedeuten.

Halb so schlimm, solange Hellas aus der Währung Euro nicht rausgeschmissen wird. Das wäre für die meisten Griechen ein finanzieller Ruin und ein nationales und kulturelles Desaster. Ein Albtraum. Wenn die Griechen heute Abend wiederum gewinnen, laufen sie Gefahr, die Deutschen noch mehr zu verärgern. Wird dann vielleicht aus Rache kein Euro mehr nach Griechenland überwiesen?

Ein wirkliches Dilemma. Zum Glück werden heute Abend nicht Politiker, sondern Fußballer die Antwort geben.

■ Georgios Pappas ist Korrespondent für ERT (öffentlich-rechtliches Hellenisches Radio und Fernsehen)

■ Gestern beschrieb an dieser Stelle Alessandro Alviani die EM aus italienischer Sicht. Wenn Alviani nicht gerade für die taz schreibt, arbeitet er als freier Korrespondent – diese Information hatten wir gestern für uns behalten