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: Hinaus nach Obermenzing

„München – Geheimnisse einer Stadt“ (Deutschland 2000, Regie: Michael Althen/ Dominik Graf)

„München – Geheimnisse einer Stadt“ ist kein Dokumentarfilm. Es treibt ihn an allen Ecken und Enden übers Dokumentarische hinaus. Erzählt wird, erfunden wird, übers Erfinden nachgedacht wird, geraunt wird, Kreisbewegungen gibt es, eine musikalische Struktur, Sinfonie der bayerischen Großstadt, aber in der Form aus dem Leim, fünf Bewegungen und Kapitel von „Der warme Kern“ bis „Die blassen Schatten“ statt der klassischen vier Sätze, so aus dem Leim wie Berlioz’ „Symphonie fantastique“ in fünf Sätzen.

Völlig überwuchert

Keine Dokumentation, oder eher: das Dokumentarische ist ganz überwuchert; zugleich ist das die Autobiografie einer Stadt, in der weder Stadt noch Erzähler „Ich“ sagen wollen, auch wenn kein anderer als einer der beiden Autoren, Dominik Graf, die meiste Zeit spricht. Essayistische Autobiografie des Städtischen, des In-der-Stadt-Seins, auch wenn einer der Vektoren, die durch den Film gelegt sind, die Geschichte des Kinds ist, dem der Nikolaiplatz in Schwabing nahe dem Englischen Garten ein erster Ausgangsort ist, fürs Leben, für München. Von da erschließt sich die Stadt, von da geht das Kind, geht der Film, geht das Erzählen hinaus in die Ferne, die Fremde, die Welt – nach Obermenzing.

„München – Geheimnisse einer Stadt“ denkt darüber nach, was die Stadt ist. Da ist München zum einen nur Beispiel, zum anderen aber auch nicht, denn jedes andere Beispiel ergäbe, obgleich viel, das gesagt wird, hier wie da und überall gilt, einen ganz anderen Film. Schließlich sind seine Macher – schließlich ist Dominik Graf und war Michael Althen – Münchner im emphatischen Sinn, auch wenn Graf sich später Berlin in großen Sittenbildern („Hotte im Paradies“, „Im Angesicht des Verbrechens“) näherte und Althen im Jahr nach Fertigstellung des Films als Filmkritiker der FAZ in die Hauptstadt zog, wo er nun auch, auf dem Waldfriedhof Heerstraße, als Bayern-Fan in der Nähe des Hertha-Stadions, begraben liegt.

Die Stadt ist, was sie ist, dafür steht der große Nachbau im kleineren Maßstab, an dem tief im 19. Jahrhundert Johann Baptist Seitz jahrelang saß, über dem er in Schulden versank, dessen Fertigstellung ihm nicht gelang. Aber schon darin, in der Manie, mit der hier wie für die Ewigkeit etwas, das immer im Fluss ist, dokumentiert werden soll, steckt der Exzess. Nicht minder in den monumentalen Nazi-Entwürfen, deren Faszination Graf/Althen nicht leugnen, obwohl sie eigentlich das Gesichtslose lieben, die Vorstadt, nicht das Wahrzeichenhafte, eher das Unscheinbare, mit dem sich leben, das sich mit Nostalgie, Hoffnung, Erinnerung aufladen lässt. Und so treibt auch der Film, so sehr er im Wirklichen sitzt, seltsame Blüten, nämlich Texte, Bilder, Geschichten. Romane werden erzählt, in der Nähe jener Möglichkeitsform, in der sich Dominik Graf in seinem bald darauf entstandenen Film „Der Felsen“ versuchte, auch zu seinem „Dreileben“-Film ergibt sich ein Echo. Der Erzähler spielt Schicksal, hätte, wäre, wenn, die Liebe, das Leben: ein Fotoroman.

Aber auch dies: Annette von Aretin (die man vielleicht aus „Was bin ich?“ noch kennt) und Selma Urfer (Dominik Grafs Mutter), die man beide nicht sieht, nur hört, alte Münchnerinnen, erinnern sich als Stimmen im Gespräch an die Vergangenheit einer einzigen Straße, der Hohenzollernstraße in Schwabing. Der Film zeigt Bilder, von heute, von damals, fährt, fliegt die Straße entlang, stockt, zeigt, es gab zwei Geschäfte mit Namen Weissberg/Waisberg, ein Juwelier, ein Kleidergeschäft, die werden erst verwechselt, dann wird das richtiggestellt. Da erscheint, was im Rest des Films manchmal vom Raunen eher zugedeckt wird: die Stadt als zugleich persönliche und kollektive Geschichte und Vorstellung. Die schönste Passage, mein liebster Moment. EKKEHARD KNÖRER