Der größte Krater Deutschlands

TAGEBAU Eine Gruppe von Umweltaktivisten harrt in einem Protestcamp bei Köln aus, um die Braunkohlebagger zu stoppen

Die Campbewohner stehen mit der Sonne auf und gehen mit ihr zu Bett

TEXT UND FOTOS SABINE GROSSE-WORTMANN

Wer Thomas Waldmann besuchen will, muss 15 Meter hoch. An einem Baumstamm. Der gebürtige Österreicher wohnt in einem Baumhaus im Hambacher Forst zwischen Aachen und Köln. Der Wald besteht aus alten Hainbuchen und Stieleichen, an manchen Tagen kann er Rehen und Wildschweinen beim Fressen zuschauen. Es wäre ein paradiesisches Fleckchen Erde, wäre da 200 Meter weiter nicht dieses Loch, der Tagebau.

Mit der Waldbesetzung wollen Waldmann und andere Umweltaktivisten nicht nur verhindern, dass der Energiekonzern RWE den Tagebau erweitert und mit noch mehr Braunkohle den Klimawandel anheizt. Sie proben auf dem seit zwei Monaten bestehenden Camp zugleich eine alternative Art des Lebens. Zwischen zehn und zwanzig Bewohner hat das Camp. Und die wollen, wenn nötig, in ihren Zelten und Baumhäusern mehrere Winter ausharren.

RWE baggert seit 1978 auf einer mittlerweile 4.000 Hektar großen Fläche das Erdreich ab, bis zu den Schichten mit Braunkohle. Auf der anderen Seite schüttet RWE die Erde wieder auf, der Tagebau fräst sich daher langsam durch die Erde, die einer Mondlandschaft gleicht. Von den ursprünglichen 5.500 Hektar Wald sind nur noch 1.000 Hektar übrig.

In der Mitte des Tagebaus geht es 400 Meter in die Tiefe. Man könnte das höchste Bauwerk Deutschlands, den Berliner Fernsehturm, komplett in dem Loch versenken – von der Turmspitze bis zur Kante der Erdoberfläche blieben sogar noch mehr als 30 Meter Luft. RWE wird hier so viel Kohle abbaggern, dass ein riesiges Loch bleibt, das dann mit Wasser gefüllt wird. Es wird der zweitgrößte See Deutschlands, gleich nach dem Bodensee.

Von Camp zu Camp

Thomas Waldmann – hier auf dem Camp alle nur „Clumsy“ nennen – gehört seit gut drei Jahren zur internationalen Waldbesetzer-Szene. Er trägt bunte Rastalocken, seine Zähne sind ein bisschen schlecht und er riecht ein wenig nach Schweiß. Einen festen Wohnsitz hat er nicht, er trampt von Camp zu Camp. Waldbesetzungen finden unter anderem auch in England und Schottland statt, ein geplanter Tagebau konnte dort bereits verhindert werden. Die Aktivisten sind eng miteinander vernetzt und besuchen sich gegenseitig. Auch im Hambacher Forst waren schon zwei englische Aktivistinnen zu Besuch.

Wie man Baumhäuser baut, das hat Waldmann bei einer Robin-Wood-Aktion gelernt. Und das Wissen gibt er weiter: Vom 29. Juni bis zum 6. Juli sollen Aktivisten aus ganz Europa hierher kommen, um Erfahrungen auszutauschen.

Die Waldbewohner haben eine Warmwasser-Solardusche und eine mehrgeschossige Komposttoilette installiert. Ein Erdkühlschrank hält die Lebensmittel frisch und knackig, die die Aktivisten aus den Mülltonnen von Lebensmittelgeschäften mitgenommen haben. Im campeigenen Beet wachsen Bohnen, Mais, Rucola und Feldsalat. Gekocht wird vegan. Ein keltisches Rundhaus, das mit Lehm verkleidet wird und in dem Feuer gemacht werden kann, soll die Gruppe über den Winter bringen.

Die Campbewohner stehen mit der Sonne auf und gehen mit ihr zu Bett. Ferngeschaut hat Waldmann bereits seit fünf Jahren nicht mehr. Aber auch andere Annehmlichkeiten einer zivilisatorischen Behausung fehlen dem Sohn eines österreichischen Politikers nicht. Vielmehr kann er sich mittlerweile kaum noch vorstellen, in geschlossenen Räumen oder sogar in einer Stadt zu wohnen. Für ihn ist es wichtig, in einer kleinen Gesellschaft zu leben, in der jeder jeden kennt und alle Verantwortung für alles übernehmen. Alkohol und andere Drogen sind in den öffentlichen Räumen tabu.

Auch mit der Bevölkerung vor Ort stehen die Aktivisten in Kontakt. Sie empfangen Besucher, führen sie durch das Camp und die sogenannte Todeszone, also den abgeholzten Streifen zwischen der Mondlandschaft des Tagebaus und dem Wald. Wer will, kann vom wortgewandten Waldmann Hintergrundinformationen über Gesetzesgrundlagen und Umwelteinflüsse des Tagebaus erfahren.

Spechte und Fledermäuse

Den meisten Bewohnern ist klar, dass es unwahrscheinlich sein wird, den Tagebau wirklich aufzuhalten. Sie kennen die Gesetze und Spielregeln. Der Bund für Umwelt und Naturschutz hat zwar eine Klage gegen den Tagebau eingereicht. Darin heißt es, dass es durch den Ausbau der erneuerbaren Energien inzwischen Alternativen zum Braunkohleabbau gibt und somit die Zerstörung eines so alten, kostbaren Waldes, der Heimat von geschützten Spechten und Fledermäusen ist, nicht mehr durch ein überwiegendes öffentliches Interesse gerechtfertigt werden könne. Aber ob die Klage Erfolg hat, ist recht ungewiss.

Noch werden die Aktivisten von RWE und der Polizei geduldet. Der Wald darf während der Vogelschutzsaison, die noch drei Monate dauert, ohnehin nicht abgeholzt werden. So lange nutzen die Campbewohner die Zeit, um sich auf die Räumung vorzubereiten. Wenn es so weit ist, wollen sie sich auf ihren Baumhäusern und Plattformen in 15 Metern Höhe anketten. Die Baumhäuser werden untereinander wie in einem Klettergarten mit jeweils zwei Seilen verbunden. Auf diesem Wege können dann Essenvorräte von einem Haus zum nächsten weitergeleitet werden.

So oder so wird es lange dauern, das Camp zu räumen, und das wird für Aufmerksamkeit sorgen. Und um diese Öffentlichkeit geht es Waldmann und den anderen. Sie möchten die Menschen aufrütteln. Denn sie eint die Wut, aber auch die Angst vor der fortschreitenden Emission von Treibhausgasen und der damit verbundenen Erwärmung der Erde. Sie möchten zeigen, dass es Alternativen gibt. Es geht um Gemeinschaft, um Solidarität, um Umweltschutz.

Aber vermissen die Waldbesetzer denn gar nichts? Nein, meint Waldmann. Nur „an der Genderstruktur“ müsse man noch arbeiten: Unter den Campbewohnern ist keine Frau.