Demokratie und Nichtverstehen

LESEFEST Umzingelt von Literaturfans: In Berlin wurde das 9. Internationale Literaturfestival eröffnet. Arundhati Roy hielt eine sehr politische Eröffnungsrede

Fokus Arabien: Niemanden wunderte es, dass die indische Schriftstellerin Arundhati Roy die Eröffnungsrede hielt – außer ihr selbst

VON NATASCHA FREUNDEL

Literatur verbindet die Völker und die Herzen, heißt es. Zur Eröffnung des 9. Internationalen Literaturfestivals (ilb) am Mittwochabend wollte der Intendant der Berliner Festspiele, Joachim Sartorius, aber „das Trennende beschwören“. So einfach sei es nämlich nicht mit der Verständigung: „Tiefe Unterschiede der literarischen Traditionen, Unterschiede in der Rolle, die Literatur in der Gegenwart spielt, auch politische, religiöse, mentale Unterschiede lassen uns gegenseitig mit Staunen und mit Unverständnis gegenübertreten.“

Das klang, als solle das Festival vor sich selbst gewarnt werden. Insbesondere vor dem diesjährigen Schwerpunkt „Arabische Welt“. In Dubai, beim ersten Internationalen Lyrikfestival der Arabischen Emirate, habe Sartorius im Frühjahr erlebt, dass Poeten regelrechte Literaturstars sein können. Während Lyrik hierzulande doch ein einsames Geschäft sei.

Dabei war der Intendant geradezu umzingelt von Literaturfans: Im ausverkauften Haus der Berliner Festspiele hatte man das Publikum sogar auf der Bühne platziert. Als Festivalleiter Ulrich Schreiber traditionsgemäß seine 70 bis 80 Praktikantinnen und – in deutlicher Minderheit – Praktikanten auf die Bühne rief, mussten die sich noch enger zusammendrängen als sonst. Das ilb hat sich als ein Hauptevent der Hauptstadt etabliert. 293 Veranstaltungen mit 220 Autoren aus 52 Ländern! Auch im neunten Jahr ist das Festival unter anderem deshalb so sympathisch, weil Schreiber diese Zahlen vorträgt, als könne er sie selbst nicht fassen. Mit ungewohnter Bestimmtheit kündigte er jedoch diesmal das stärkste Programm seit der Festivalgründung an. Er könnte recht behalten.

Ägyptisches, irakisches, jemenitisches, marokkanisches und palästinensisches Arabisch von hierzulande noch völlig unbekannten Autoren wird zu hören sein. Und nicht nur Lyrik. Der Orientalist Günther Orth stand bei der Auswahl zur Seite. Er sieht die arabische Literatur im Umbruch: Noch nie spielte der Roman eine so große Rolle wie heute, und „jetzt fallen dort, wenn auch spät, die letzten großen Tabus, und die waren immer geprägt von den drei Themenkomplexen Politik, Religion und Sex“.

Zudem will das Festival ja wirklich „international“ sein, also droht der arabische Schwerpunkt in der Vielzahl der Sparten aus dem Fokus zu geraten, also werden auch Weltliteraten wie Siegfried Lenz, Colum McCann, Péter Nadas oder Tim Parks erwartet. So wunderte es niemanden, dass die indische Schriftstellerin („Der Gott der kleinen Dinge“) und gesellschaftspolitische Essayistin Arundhati Roy die Eröffnungsrede hielt – außer ihr selbst. Erst nach einigem Überlegen habe sie verstanden, sie stehe bei diesem „arabischen“ Festival als Antinationalistin auf der Bühne; Kritiker in Indien würden sie nicht umsonst so bezeichnen. Ihre Rede gelte „allen von uns, die sich ihr Hirn nicht in die Nationalfahne ihres Landes einwickeln lassen“.

In einem rot und schwarzblau schimmernden Sari gab Arundhati Roy mit dem charmantesten Lächeln eine Lektion freien Denkens. Entgegen Sartorius’ Mutmaßungen über das „Nichtverstehen auf dem Grunde jedes Verstehensversuches“ wollte sie absolut klar sein. Als hätten wir keine Zeit zu verlieren, sei doch das Licht der Demokratie allerorts im Begriff zu verschwinden.

Große Teile der Eröffnungsrede von Arundhati Roy finden sich im Vorwort ihres neuen Buchs „Listening to Grasshoppers. Field Notes on Democracy“ wieder, das im kommenden Frühjahr auf Deutsch erscheinen soll. Für das ilb hat Roy das Vorwort aktualisiert und mit einer sehr konkreten Zukunftsvision verbunden: der eines Bürgerkriegs, ja eines Genozids in der sogenannten größten Demokratie der Welt Indien, die mit dem freien Markt eine erschreckende Koalition eingegangen sei. Die indische Regierung plane im Oktober, nach dem Monsunregen, die Vertreibung der Stammesvölker aus den an Bodenschätzen reichen Wäldern Zentralindiens. Der Krieg um Rohstoffe werde „Fortschritt“ genannt, wer sich widersetzt: „Terrorist“. Historische Beispiele für diesen quasi natürlichen „Kampf um Lebensraum“ kenne man nur zu gut aus Europa.

Als Roy den allgegenwärtigen Sprachmissbrauch anprangerte, der aus der Vernichtung von Menschen „die Verteidigung der Demokratie“ macht, fühlte man sich an frühere Eröffnungsreden des ilb erinnert – etwa von Édouart Glissant und David Grossman. Offenbar ist Verständigung gerade unter Literaten durchaus möglich. Immer mehr beobachten heute, was Adorno schon 1959 befürchtete, dass nämlich „das Nachleben des Nationalsozialismus in der Demokratie“ bedrohlicher sei „denn das Nachleben faschistischer Tendenzen gegen die Demokratie“.