Sehnsucht nach dem guten Leben

POLITKUNST Das Zentrum für politische Schönheit will mit Kunst die Welt retten. Neustes Projekt der Gruppe ist die Verlesung von Hoffnungen vor dem Kanzleramt. Das Motto des Initiators: „Hallo, hilf mal deinem Land“

„Da sehe ich die Künstler in der Pflicht. Sie müssen einspringen, wo die Politik versagt“

Philipp Ruch

VON FRAUKE ADESIYAN

Der Wahlkampf lahmt, die Republik verfällt in Lethargie. Doch es gibt neue Hoffnung auf Heilung: Poesie und Schönheit, Größe und der Mut zum Geschichte-Schreiben sind die Rettung, so die Kernaussage vom „Zentrum für politische Schönheit“ (ZPS), einer Berliner Gruppe von Aktionskünstlern. In den vergangenen Monaten sind sie mit einem Pferd vor den Bundestag geritten und haben Thesen angenagelt, sie wurden wegen der Lesung eines expressionistischen Gedichts zur Bundespräsidentenwahl festgenommen und haben Angela Merkel und Frank-Walter Steinmeier bei Ebay zum Kauf angeboten. Am Donnerstag werden sie in einem „Forum der verlorenen Hoffnungen“ vor dem Kanzleramt eine Rampe aus Wahlprogrammen aufbauen und der Bundeskanzlerin stundenlang die Wünsche ihrer Bürger vorlesen.

Initiator des Ganzen ist Philipp Ruch. Ein hoch gewachsener, sehr schmaler Mann, der zum Treffpunkt in der Kastanienallee mit einem cremefarbenen Hollandrad heranrollt. Beim Setzen schiebt sich der 28-Jährige beiläufig ein ergonomisch geformtes Kissen zwischen Rücken und kippligen Klappstuhl. Ohne Bestellung steht innerhalb kürzester Zeit ein Latte macchiato vor ihm auf dem Tisch – man kennt Ruch. Und doch scheint er fremd in der vermeintlichen Szenekneipe.

Zwischen all den betont Entspannten und Individuellen gibt er ohne Umschweife den Idealisten. Im ZPS ist er damit unter seinesgleichen, all die Aktionen dienen der Weltverbesserung. Sehnsuchtsbildung ist das erste erklärte Ziel der Gruppe. Wo Politiker an der Meinungsbildung scheitern, müssen die Menschen zunächst aus der Lethargie befreit werden. „Da sehe ich die Künstler in der Pflicht. Sie müssen einspringen, wo die Politik versagt.“ Ruch nennt das einen patriotischen Akt; er fordert Schriftsteller, bildende Künstler und andere Kreative auf: „Hallo, hilf mal deinem Land.“ In seinem Tonfall schwingt bei solchen Äußerungen keine Ironie mit, Ruch ist es ernst.

Die Krise verlangt nach Vorbildern und Helden, die Politik muss wieder vom Großen und Schönen bestimmt werden, so die Überzeugung der Aktivisten vom ZPS. Das fehle in Deutschland gänzlich, der sehnsuchtsvolle Blick geht direkt ins Obama-Land USA. Weil ihm „Führerschaft“ dann doch etwas schwer über die Lippen kommt, redet Ruch von Leadership und Strahlkraft, von einfachen Themen und der Kunst, den richtigen Ton zu treffen. All das brauche die deutsche Politik, vor allem in der Krise.

Große Visionen und Lebensziele sind Ruch persönlich nicht fremd. Während die Sehnsüchte seiner Generation um Karriere, Weltreise und Familie kreisen, ist es sein erklärtes Ziel, Genozide zu verhindern. Nachdem er dafür nahe liegende Wege wie Entwicklungshilfe, Politik oder Wissenschaft ausgeschlossen hat, lautet die Strategie Aktionskunst. Für sein Alter hat Ruch schon erstaunlich viele Lebensentwürfe hinter sich. Er hat Kinofilme vermarktet, politische Theorie studiert und Experimentalfilme gedreht. Auch bei den etablierten Parteien hat er es versucht. „Ich habe gefragt: Wo wird denn hier bei euch rumgesponnen, wo werden die großen Ideen rausgehauen?“ Eine befriedigende Antwort bekam er nicht. Auch die Wissenschaft enttäuschte den angehenden Doktoranden. Ruch braucht die Wirkung, unmittelbar und am liebsten herzzerreißend. Wenn Kriegswaisen von ihren Träumen erzählen, wenn ein Berg von Schuhen an die Opfer von Srebrenica erinnert – das rüttle die Menschen auf, das könne Mentalitäten ändern, glaubt er.

Groß denken – das ist nicht nur Ruchs Forderung, das entspricht auch seiner eigenen Herangehensweise. Abwrackprämie und Opel-Krise, Arbeitslosigkeit und andere Themen der realen deutschen Politik findet er überbewertet. Der Polit-Künstler bleibt nicht gern auf die Region beschränkt und schon gar nicht auf kurzfristige Aktionen. Am liebsten will er unerwähnt lassen, dass das Zentrum erst seit einigen Monaten existiert. Er denkt lieber in Epochen und auch hier zeigt er wenig Optimismus. Genozide vor allem in Afrika werden die Weltgeschichte des 21. Jahrhunderts bestimmen, da ist sich Ruch sicher.

Er redet mit Experten aus der Region und ruft im Kanzleramt an, um zu warnen, doch niemand hört ihm zu. „Mir graut vor dem historischen Urteil über unsere Zeit“, sagt er. Kein Augenzwinkern, kein schiefes Lächeln schwächt diesen Satz ab. Wenn zukünftige Generationen fragen, was wurde zu Anfang unseres Jahrhunderts getan, um das Unglück zu verhindern, möchte er Teil der Antwort sein. Dafür schlägt das „Zentrum für politische Schönheit“ kurzfristig aufblasbare Rettungsinseln für afrikanische Flüchtlinge im Mittelmeer vor, langfristig ist eine Brücke geplant. „Wenn dann in den Geschichtsbüchern steht, der Westen hat etwas verstanden, bin ich schon zufrieden“, sagt Ruch dazu ganz unbescheiden.

Damit ist auch das zweite Ziel nach der Sehnsuchtsbildung erklärt: die Rettung von Menschenleben. Insgesamt hat sich das Zentrum zehn Punkte vorgenommen, die es in den kommenden vier Jahren auf die politische Agenda bringen will. Doch darüber reden wollen die Künstler erst nach und nach. Vielleicht würde es ansonsten sogar für die schamlosen Weltverbesserer zu pathetisch.

Und so konzentriert sich Ruch auf die Veranstaltung am Donnerstag. Hunderte Kreative und Institutionen hat er angeschrieben und aufgefordert, verschüttete politische Hoffnungen auszugraben. „Eine halbe Stunde nachdenken am Küchentisch“, mehr verlange er nicht. Nun sollen die Angeschriebenen abliefern. Ab 20 Uhr werden die Hoffnungen von Schauspielern vor dem Kanzleramt verlesen oder vorgespielt. Mit dem Megafon wird so lange in Richtung von Merkels Büro geschrien, bis jemand den Künstlern die in Marmeladengläsern konservierten Hoffnungen abnimmt.

■ Das Forum der verlorenen Hoffnungen am Donnerstag ab 20 Uhr vor dem Kanzleramt