STEINMEIER, UNSCHARFE RENTNER UND WESTERWELLES KNALLTÜTENSEKTE
: Unter der sengenden Sonne der digitalen Demokratie

SPÄTER MEHR

DIEDRICH DIEDERICHSEN

Auf dem grellen Plakat, das Frank-Walter Steinmeier unter Rentnern zeigt, sind außer seinem Gesicht alle bis auf das einer alten Dame, die neben ihm sitzt, unscharf. Ungünstigerweise trägt diese Dame die gleiche Brille wie der Kandidat. Man erhält dadurch den Eindruck, dass Steinmeier und diese Dame so etwas wie ein Geschwisterpaar bilden, ja mehr noch, dass sie einer Geheimorganisation angehören – einer irren Illuminatentruppe, deren Mitglieder sich an einem ganz bestimmten Brillenmodell erkennen.

Natürlich wirkt diese Sekte noch nicht so wahnsinnig wie die frisch von der Scientologykirche angemieteten Alien-Statisten, die sich um Guido Westerwelle auf einem mittlerweile schon legendären F.D.P-Plakat scharen. Aber in beiden Fällen läuft es darauf hinaus, dass in Zeiten wie diesen, wo Schmalhans Charismameister ist, subtil spirituelle Dimensionen in den Wahlkampf eingeführt werden müssen. Wo die KandidatInnen so uncharismatisch sind, muss ein magisch-mythisches Umfeld behauptet werden, ein Magnetismus inszeniert, an dem niemand vorbeikommt: die alte Coca-Cola- und Kartoffelchips-Idee, den Leuten vorzuführen, dass die anderen eine Party haben, bei der sie doch eigentlich auch lieber dabei sein wollen.

Fuck Sexyness!

Zugleich scheinen aber solche, leicht übersinnlich motivierte, zudem übersichtlich kleine Gruppen auch als ein neues soziales Modell zur Debatte zu stehen. Interessengruppen wie Rentner oder Besserverdiener sind nicht mehr klassisch interessegeleitet, sondern von höheren Zielen und einer neuen kommunikativen Binnendynamik. Auf welchem Planeten herrschen übrigens derartige Lichtverhältnisse?

Natürlich steht es demokratischen Repräsentanten nicht wirklich gut, so sie in körperlicher Nähe der zu Repräsentierenden inszeniert werden. Erst recht, wenn ihr eigener Körper sich in all seiner peinlich rührenden Einmaligkeit durch alle Verhübschungsmaßnahmen hindurch authentisch breitmacht. Das ist nicht schlimm, weil sie alle so hässlich sind, wie das nicht totzukriegende Satiretraditionen und Politikerverarschungen glauben. Nein, das Problem ist dieser elend unangemessen-narzisstische Stolz auf die eigene Konkretheit, die einem demokratischen Repräsentanten nicht zukommt. Bring back the man in the grey flannel suit! Fuck Sexyness!

Abgeordnete sollen ja gerade nicht sein wie die, die sie vertreten. Denn erstens ist Sein eben ganz anders als Vertreten, und zweitens vertreten sie nicht einen anderen, wie Schauspieler, sondern gerade ganz viele, denen ein Einzelner nicht ähnlich sein kann. Man kann das Repräsentationsprinzip natürlich mit radikaldemokratischen Argumenten zurückweisen, aber wenn man sich auf es einlässt, muss man sich auf die Abstraktion einlassen, die einen Abgeordneten ausmacht. Hat noch nie ein Politiker die Idee gehabt, sich zu einer Comicfigur verdichten zu lassen? Seit den ersten Ansätzen demokratischer Öffentlichkeitsbildung sind es Zeichnungen und Karikaturen, an die die Menschen sich als Abstraktionen sozialer Vielfalt zu Recht gewöhnt haben. Das Nichtkörperliche, Nichtmenschliche und Institutionelle an der Idee des Abgeordneten hätte so eine Entsprechung, die seiner tatsächlichen Funktion als Vertreter von vielen ähnelt.

Die aktuelle Version herbeiinszenierter Intimität mit dem Wahlvolk unterscheidet sich aber noch mal von ihren postfaschistischen Vorgängern. Der Eindruck des Sektenhaften ist an die Stelle des nationalistischen Kitsches vom Volk getreten, den man allenfalls bei der CDU und ihrer Kraft-Kampagne noch vorfindet. An seine Stelle sind Versuche getreten, die noch sehr tastend sich bemühen, neue soziale Formationen in Bilder zu übertragen. Sind die unscharfen und daher nur irgendwie wolkig anwesenden Rentner ein neues, zugeschaltetes soziales Netzwerk? Eine Community gar? Stellt die Knalltütensekte um Westerwelle eine StudiVZ-Gruppe dar?

Volkspartei ist so was von undigital. Das hat sich irgendwie rumgesprochen. Mehrheiten entstehen aber nur durch Bilder, die sich auf Ideen und Tatsachen beziehen, die die gesamte Bevölkerung betreffen. Der übliche Populismus verhindert den Schritt zu Otto-Neurath-Grafiken und anderen Designlösungen, die die Abstraktheit aller Verwaltung, aller Regierung in der Gestaltung reflektieren. Die aktuelle Bilderpolitik versucht nach wie vor die Körperlichkeit mit aller impliziten Intimitätsverletzung, Zunahetreterei und Gewaltandrohung in eine soziale Welt zu retten, deren Strukturen nur noch ein paar Grade vermittelter sind.

Und übrigens: Es gibt drei Möglichkeiten, Schwarz-Gelb zu verhindern. Schon gewusst?

■ Der Autor, geb. 1957, lebt in Berlin und ist Professor an der Akademie der bildenden Künste in Wien