Die Hölle im Hunsrück

VERZUG Vier Jahre nach einer Wallraff-Enthüllung muss sich ein Fabrikbesitzer vor Gericht verantworten

■ Der Termin: Am 4. Juni ist Günter Wallraff als Zeuge vor das Amtsgericht Bad Kreuznach geladen. Verhandelt wird gegen Bernd Westerhorstmann, ehemals Geschäftsführer der Brötchenfabrik Weinzheimer in Rheinland-Pfalz. Der Vorwurf: fahrlässige Körperverletzung. Der Prozess verzögert sich seit Jahren.

■ Die Recherche: Wallraff hatte sich 2008 als Arbeiter in die Fabrik eingeschlichen, um von den miesen Arbeitsbedingungen im Betrieb zu berichten.

■ Der Haken: Eine Schuld gesteht Westerhorstmann nicht ein und bringt Wallraff in Zivilprozessen vor Gericht. Die Fabrik machte er nach der Enthüllung dicht.

VON FELIX DACHSEL

Der Ort Stromberg im Hunsrück, eine halbe Autostunde entfernt von Mainz, 3.200 Einwohner, ist nicht ein Ort, an dem man die Hölle vermutet, außer man hasst die Provinz generell: ein Stadtfest im Juni, zu Ehren des deutschen Michel, eine Kirmes im Juli, zu Ehren von Apostel Jakobus, eine Burg über der Stadt, die Stromburg, Johann Lafer kocht hier, ein Gourmetmenü kostet 149 Euro.

Doch Stromberg kann die „Hölle“ sein. Es ist das Wort, das Menschen benutzen, die hier gearbeitet haben. Ihre Hölle war eine unscheinbare Fabrik am Stadtrand, die Gebrüder Weinzheimer Brot GmbH & Co. KG, 1897 gewerblich angemeldet, 2010 geschlossen. Es ist Günter Wallraff zu verdanken, dem Enthüllungsjournalisten aus Köln, dass diese Hölle nicht unentdeckt blieb. Er schlich sich 2008 in das Unternehmen ein, das Bernd Westerhorstmann gehört. Wallraff fand Verstöße gegen den Arbeitsschutz, doch Westerhorstmann gelang es, den Prozess gegen ihn immer wieder zu verzögern. Am nächsten Montag ist es so weit: Wallraff sagt als Zeuge vor dem Amtsgericht Bad Kreuznach gegen Westerhorstmann aus. Der Vorwurf: fahrlässige Körperverletzung.

Westerhorstmann produzierte in seiner Fabrik Aufbackbrötchen für Lidl. So günstig, dass die Produktion auf Kosten der Angestellten ging. Wenn man heute die Ermittlungsakten der Staatsanwaltschaft liest, bekommt man einen Eindruck, wie das Unternehmen funktionierte: Westerhorstmann steckte viel Druck und Verachtung hinein und bekam kleine Brötchen heraus. An den Wänden wuchs der Schimmel. Er überwachte seine Angestellten mit Kameras, mahnte ab und kommandierte.

Wenn Bernd Westerhorstmann durch seine Fabrik ging und mit Arbeitern sprechen wollte, habe er mit Fingern auf sie gezeigt, erinnern sich ehemalige Angestellte. Wenn ein Arbeiter aufmuckte, dann habe der Geschäftsführer klargemacht, wie schnell er neue Arbeitskräfte bekäme, schon an der nächsten Bushaltestelle würden sie warten. Wie Tiere habe Westerhorstmann sie behandelt.

Ein anderer Arbeiter gibt bei der Polizei zu Protokoll, er sei bei seiner Einstellung nicht über die Unfallgefahren aufgeklärt worden, schon nach wenigen Tagen habe er Verbrennungen an den Armen erlitten. Eine andere Angestellte berichtet in einer eidesstattlichen Erklärung von Verbrennungen und Verletzungen. Im Verbandbuch der Fabrik werden mehrfach Schnittwunden notiert, Platzwunden, Abschürfungen. Die Brötchenfabrik von Bernd Westerhorstmann war eine unentdeckte Hölle der modernen Arbeitswelt, umringt von rheinland-pfälzischer Idylle.

Bis Günter Wallraff auf den Betrieb aufmerksam wird. Er bewirbt sich mit Perücke, versteckter Kamera und falscher Identität. Zwei Monate arbeitet er in der Fabrik. Er dreht einen Film und schreibt eine Reportage. Er sichert seine Geschichte mit eidesstattlichen Versicherungen ab. Wallraff undercover – das bedeutet noch immer: maximale Öffentlichkeit. Anschließend steigen die Löhne der Beschäftigten, einiges wird besser in der Fabrik.

Im September 2010 teilt Westerhorstmann mit, er sei „nach langer Prüfung und Beratung“ zu dem Ergebnis gekommen, dass er den Betrieb aus persönlichen Gründen nicht fortführen könne. Sein System der Billigproduktion ist nach der Wallraff-Veröffentlichung kollabiert, man kann das mit einiger Fantasie einen „persönlichen Grund“ nennen.

Bleibt nur noch die unabhängige Beurteilung des Falles durch ein Gericht in einem öffentlichen Prozess. Eine Beurteilung, die sich jahrelang verzögert.

Im Oktober 2008 beantragen Westerhorstmanns Anwälte, das Ermittlungsverfahren einzustellen. Westerhorstmann erstattet Strafanzeige gegen Wallraff wegen Hausfriedensbruchs. In einem Schreiben seiner Anwälte heißt es, die Verletzungen, die Wallraff in seiner Vernehmung vorweisen konnte, habe er sich selbst zugefügt, nachdem seine Recherche nicht so verlaufen sei wie gewünscht.

Am 17. September 2009 schickt das Amtsgericht Bad Kreuznach einen Strafbefehl an Westerhorstmann. Er habe sich im Zeitraum von März 2007 bis März 2008 der fahrlässigen Körperverletzung schuldig gemacht. Angeführt werden fünf Zeugen, einer von ihnen ist Günter Wallraff. Westerhorstmann soll 5.000 Euro an einen gemeinnützigen Verein zahlen. Seine Anwälte lehnen allerdings jede Strafzahlung ab. In einem Schreiben verweisen sie darauf, die Berichterstattung Wallraffs habe für Westerhorstmann und dessen Familie schwerwiegendste Folgen.

Am 26. April 2010 beantragt Westerhorstmanns Anwalt, eine Ladung seines Mandanten für zwei Termine im Juni 2010 aufzuheben. Westerhorstmann befinde sich dann auf Teneriffa, zu der von ihm ausgerichteten Feier der silbernen Hochzeit seiner Schwiegereltern.

Am 30. November 2011 verfasst Bernd Westerhorstmann in Puerto de la Cruz, Teneriffa, eine eidesstattliche Versicherung. Er habe in seiner zwanzigjährigen Tätigkeit regelmäßig Backbleche vom Ofen abgenommen. Verbrannt oder verletzt habe er sich dabei nicht.

Westerhorstmann engagiert auch den Medienanwalt und Fernsehmoderator Ralf Höcker, der in einem Zivilprozess vor dem Landgericht Köln gegen Wallraff vorgehen soll, weil der öffentlich behauptet hatte, Westerhorstmann entziehe sich der Gerichtsbarkeit. Vor Gericht mutmaßt Höcker, Wallraffs Verbrennungswunden seien auf die Arbeit einer Maskenbildnerin zurückzuführen.

Das Protokoll der polizeilichen Vernehmung Westerhorstmanns ist nur wenige Zeilen lang, er zeigt sich darin ahnungslos über die Vorwürfe. Sein Anwalt war für eine sonntaz-Anfrage nicht erreichbar. Eine ehemalige Angestellte streitet sich per Anwalt mit Westerhorstmann um ihren Lohn. „Er ist so“, sagt sie. „Er will uns ärgern.“