Zettel mit Palme

In Harburg zeigt die Ausstellung „Landschaft mit Lesern“ Interpretationen von Arno Schmidts „Textbildern“

Walter Kahl liebt es kryptisch. Für den Kunstverein Harburger Bahnhof hat er eine Ausstellung konzipiert, die einen nicht minder kryptischen Epigonen zum Gegenstand hat: Arno Schmidt. Für viele ist dieser Autor der Inbegriff der Unlesbarkeit, für andere der deutsche Joyce und sein Opus magnum Zettels Traum sein Finnegans Wake. Von diesem sieben Kilo schweren Buch hat man gehört, dass es unlesbar sei. Nur wer die Exegese des Schmidtschen Wortuniversums liebt, würde dies bestreiten.

Auch der Fan Walter Kahl gesteht, dass er beim Erscheinen 1970 vor Zettels Traum kapitulierte. Aber mit der Veröffentlichung von Fotos aus dem Schriftstellerarchiv 2003 habe sich ihm ein neuer Zugang geöffnet. Einer, der sich nicht aus der Literaturwissenschaft speist, sondern aus der Kunst. Wohlgewogene Stilleben und stimmungsschwangere Landschaftsaufnahmen zeigt denn auch die Ausstellung im Harburger Bahnhof. Krakenarmige Bäume, Liegestühle auf der Terrasse, eine Lichtung, ein rotes Haus allein im Feld. Aber: Wär‘s nicht Schmidt, es wäre banal!

Kombiniert mit dem aufgestellten Lesetisch, könnte man die Ausstellung als „klassische Verführung zur Lektüre“ bezeichnen. Aber Kahls Interpretation ist vielschichtiger: Ein neunminütiger Videofilm erschließt sich ohne Hilfe nur wenig. Aufnahmen vom Bargfelder Wohnhaus gibt es dann noch, Bilder einer Liste von Schmidts Romanfiguren: Doku oder Kunstfilm? Eine Narzisse auf dem Grab: der Schriftsteller als Narziss?

Nur wer weiß, dass der Grantler und Misanthrop Schmidt im eigenen Werk zahlreiche Widergänger hinterließ, versteht das „ICH“ am Anfang der Liste als Keimzelle der „Ich=Gruppen“ (A. Schmidt) des Spätwerks. Andere visuelle Entdeckungen zeigt Kahl in einem aufwendigen pappgrauen Katalog.

Es war bekannt, dass Schmidt seine Textkästen „Fotoalben“ nannte. Auch dass er mit der Schreibmaschine Gesichter, Panzer und manchmal konkrete Poesie zaubern konnte. Doch noch nie hat jemand sie als eigenständige visuelle Werke Schmidts erkannt – oder ernst genommen: die Dreispaltigkeit des Layouts als Triptychon, die fünf Ausrufezeichen im Text als die Palmen, von denen der Autor spricht. Und wenn im Roman eine Figur in Hieronymus Boschs Garten der Lüste steigt, dann findet Walter Kahl sie am unteren Bildrand des Gemäldes wieder. Seine im Katalog gezeigten „Textausschnitte“ sind wörtlich zu nehmen: nicht Zitat, sondern Aus=Schnitte aus Schmidts Texten. Und damit wird der große „Unlesbare“ – teilweise sehr lustvoll – doch lesbar.

Christian T. Schön

Mi–So 14–18 Uhr, Kunstverein Harburger Bahnhof; bis 19.6.