Der Fall Bemba

DOKUMENTARFILM „Carte Blanche“ handelt von Kriegsfolgen und internationaler Gerichtsbarkeit

„Kony 2012“ heißt ein Agitationsfilm, der seit knapp zwei Monaten im Internet für die Kampagne „Stop Kony“ wirbt. Joseph Kony, Anführer der ugandischen „Lord’s Resistance Army“ und mutmaßlicher Kriegsverbrecher, soll, darauf zielen Film wie Kampagne, dingfest gemacht werden. Und anschließend soll ihm vor dem Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag der Prozess gemacht werden. Dass die juristische Aufarbeitung von Verbrechen gegen das Völkerrecht nach wie vor mit immensen Schwierigkeiten verbunden ist, zeigt jetzt ein Schweizer Dokumentarfilm.

In Heidi Specognas „Carte Blanche“ geht es um einen anderen zentralafrikanischen Milizenchef: um Jean-Pierre Bemba, den Anführer des Mouvement de Libération du Congo (MLC). Das MLC kam im Jahr 2002 dem damaligen Staatschef der Zentralafrikanischen Republik, Ange-Félix Patassé, zu Hilfe, als der von einem Staatsstreich bedroht wurde. Bembas Truppen werden zahlreiche Kriegsverbrechen, insbesondere systematische Vergewaltigungen, vorgeworfen. Specognas Team begleitet zunächst zwei Mitarbeiter des Internationalen Strafgerichtshofs, einen Arzt und einen Ermittler, bei der Beweisaufnahme in einem grenznahen Dorf.

„Carte Blanche“ möchte zwei Dinge gleichzeitig leisten: einerseits die Nachwirkungen des Bürgerkriegs in der Zentralafrikanischen Republik dokumentieren und andererseits ein Institutionenporträt des Internationalen Strafgerichtshofs zeichnen. Der entstand 2002 nach dem Vorbild der Sondergerichtshöfe für die Bürgerkriege in Jugoslawien und Ruanda. Erst im März dieses Jahres erfolgte der erste Schuldspruch, gegen Thomas Lumumba, ebenfalls Kongolese. Sein Landsmann steht am Anfang eines aufwändigen Prozesses; die Ankläger müssen nicht nur die Verbrechen selbst belegen, sondern auch Bembas Verantwortlichkeit für die Handlungen seiner Truppen und nicht zuletzt die Verantwortlichkeit des Gerichts für Bemba.

Anonymisierte Aussagen

Die Schwierigkeiten einer transnationalen Gerichtsbarkeit in einer nach wie vor nationalstaatlich organisierten Welt werden im Film durchaus thematisiert: Specogna unterhält sich ausführlich mit Vertretern der Anklage über den aufwändigen Prozess der Beweisführung; Gloria Atiba Davies, eine Expertin für Zeugenbegegnungen, erzählt, wie der Hauptangeklagte ihres letzten Falls nach einem Putsch Staatschef wurde. Außerdem tauchen im Film Originalaufnahmen von Vorverhandlungen im Fall Bemba auf: Da sitzen zwar alle Beteiligten in einem Raum, kommuniziert wird aber hauptsächlich über auf den Bänken montierte Bildschirme. Ein Bild dafür, wie die Prozessanordnung systematisch von Medientechnik dezentriert wird.

Leider fällt „Carte Blanche“ immer wieder hinter die in solchen Momenten durchscheinende Komplexität zurück, etwa wenn zu anonymisierten Zeugenaussagen über die Vergewaltigungen die Gesichter afrikanischer Frauen montiert werden. Derartige Bild-Ton-Montagen überspringen, und da trifft sich Specognas Film mit „Kony 2012“, alle Ebenen der Vermittlung und konstruieren einen einheitlich erscheinenden, aber fiktionalen juristischen Raum, der Den Haag, die Zentralafrikanische Republik und die Kinoleinwand – die Filmzuschauer nehmen den Platz ein, der im klassischen Gerichtssaal dem Publikum zukommt – umfasst. LUKAS FOERSTER

■ „Carte Blanche“. Regie: Heidi Specogna. Schweiz 2011, 91 Min.