Auf Montage in Auschwitz

von Peter Hillebrand

Ob Heinrich Messing wusste, was ihn in Auschwitz erwartete, als er am 4. Januar 1943 in Erfurt in den Zug stieg, ist unbekannt. Aber was er sechs Monate später nach seiner Rückkehr sagte, hat seine Tochter Hildegard, damals 16 Jahre alt, nie vergessen: „Wenn das rauskommt, was ich gesehen habe, werden wir alle bis zu den Knien im Blute waten.“

Seit 1934 arbeitete der gelernte Klempner als Reisemonteur bei Topf & Söhne, Erfurt, einer 1878 gegründeten großen Maschinenfabrik, die auch Krematorien baute. An Ansichtskarten mit dem Eiffelturm und vom Kölner Dom erinnert sich seine Tochter. Bis jetzt wusste sie nur, dass er in Auschwitz war, weil sie diesen Satz aufgeschnappt hatte. Er hat ihr nie erzählt, was er dort sah, auch nicht, was er montierte. Auf den Arbeitszetteln aus dem Archiv Auschwitz erkennt sie sofort seine Schrift: „13. März 1943, 15 Arbeitsstunden, Be- und Entlüftungsanlagen im Keller I in Betrieb genommen.“ In diesem Keller, der Gaskammer, wurden in der Nacht zum 14. März 1.492 Juden aus dem Krakauer Ghetto ermordet. Er muss die Leichen am nächsten Tag gesehen haben. Nur wenige wurden in dieser Nacht wegen Problemen mit den Öfen verbrannt. Er arbeitete noch drei Monate in Auschwitz und montierte eine weitere Gaskammer. Wie er mit diesem Wissen überhaupt noch schlafen konnte, fragt sich jetzt seine Tochter.

Heinrich Messing war seit 1930 KPD-Mitglied. 1933 verbrachte er drei Monate in Schutzhaft und stand anschließend unter Polizeiaufsicht. Zusammen mit seinem Bruder Wilhelm, ebenfalls Kommunist, fing er bei Topf & Söhne an. Bernhard Bredehorn, stadtbekannter KPD-Funktionär, stieß 1936 nach einem KZ-Aufenthalt dazu, 1937 der Kesselschmied Friedrich Schiller, ebenfalls KPD. Die aktivste Widerstandsgruppe der KPD in Erfurt mit zeitweise 25 Mitgliedern entstand bei Topf & Söhne. Bernhard Bredehorn erklärte das später so: Diese Firma hatte keine Rüstungsaufträge, und alle aus KZ und Zuchthäusern entlassenen Metallarbeiter wurden dorthin überwiesen.

0fenbau und Widerstand

Es war kein Geheimnis, dass Topf & Söhne Krematorien für die SS baute. Walter Bredehorn, der Sohn von Bernhard Bredehorn, erinnert sich, dies lange vor 1944 von seinem Vater erfahren zu haben. Seit 1939 gehörte die SS zum Kundenkreis. Das KZ Buchenwald benötigte wegen einer Epidemie dringend einen Verbrennungsofen. Topf & Söhne lieferte. Andere KZ folgten. Im Oktober 1941 begann die SS, das Lager in Auschwitz zu erweitern. Topf & Söhne bot ein riesiges Krematorium mit insgesamt fünfzehn Verbrennungskammern an. Die SS bestellte gleich mehrere davon. Der Auftrag für Auschwitz unterschied sich nicht nur hinsichtlich der Größe von den vorigen. Eine Entlüftungsanlage für den als Leichenkeller bezeichneten Raum gehörte dazu. Jedem Beteiligten musste aufgrund der technischen Ausstattung klar gewesen sein, dass hier nicht Leichen aufbewahrt, sondern Menschen vergast werden sollten.

1943 war bei Topf & Söhne – laut Bernhard Bredehorn – eine „straff organisierte Betriebszelle“ aktiv. Man verteilte Flugblätter, besorgte den russischen Kriegsgefangenen Essen und ermöglichte ihnen, den sowjetischen Rundfunk zu hören. Verhaftungen hielten die Zelle nicht von ihrer Arbeit ab. Friedrich Schiller kam mal für Tage, dann wieder für Wochen in Schutzhaft und wurde schwer misshandelt. Wilhelm Messing saß ab 1942 im Zuchthaus Brandenburg. 1944 kamen mehrere Genossen ins KZ Buchenwald. Auch Bernhard Bredehorn, der aber nach drei Monaten entlassen wurde. Arbeit fanden sie immer wieder bei Topf & Söhne. Heinrich Messing, meist auf Montage, blieb bis Kriegsende unbehelligt. Keiner musste zur Wehrmacht. Sie waren „unabkömmlich“.

Der Krieg endete in Erfurt mit dem Einmarsch der US-Truppen. In Buchenwald sahen die Befreier das Firmenschild auf dem Verbrennungsofen und verhafteten den Abteilungsleiter Krematoriumsbau Kurt Prüfer. Ludwig Topf, einer der beiden Eigentümer, setzte daraufhin seinen Prokuristen Max Machemehl, wie er NSDAP-Mitglied seit 1933, testamentarisch als Nachlassverwalter ein und vergiftete sich. Kurt Prüfer kam nach zwei Wochen frei.

Gleichwohl setzte sich der zweite Eigentümer Ernst-Wolfgang Topf in den Westen ab, nachdem er und Kurt Prüfer die Korrespondenz mit der SS vernichtet hatten. Wie vereinbart zogen sich die US-Truppen im Juli 1945 aus Thüringen zurück und die sowjetischen Truppen rückten nach. Die Sowjets enteigneten Topf & Söhne und setzten Friedrich Schiller als Betriebsratsvorsitzenden ein. Kurz darauf nahm die KPD Max Machemehl als Mitglied auf und er konnte kaufmännischer Leiter bleiben. Zuvor hatte er Schiller 1.000 Mark gegeben – „aus dem Direktionsfonds“. Als das später, nach Machemehls Flucht in den Westen, bekannt wurde, verwahrte sich Schiller dagegen, dies Bestechung zu nennen. Er habe das Geld als eine Entschädigung für seine Arbeit im Betriebsrat erhalten.

Polizeiarbeit und Vertuschung

Der Roten Armee waren in Auschwitz die Akten der SS-Bauleitung in die Hände gefallen. Im März 1946 verhaftete ihr Geheimdienst vier leitende Mitarbeiter von Topf & Söhne, darunter Kurt Prüfer. Heinrich Messings Tochter Hildegard erinnert sich, wie damals spät Abends Friedrich Schiller vor der Tür stand und ihren Vater sprechen wollte. Sie hörte Schiller sagen: „Heinrich, du musst verschwinden. Die Russen suchen dich.“ Ihr Vater verließ sofort das Haus und kam erst nach zwei Wochen zurück. Ohne Erklärung. Es wurde nie wieder darüber gesprochen. Der Betrieb zahlte den Familien der Verhafteten die Gehälter vorerst weiter. Ein sowjetisches Gericht verurteilte sie zu 25 Jahre Zwangsarbeit.

Im Westen musste sich Ernst-Wolfgang Topf von einer Spruchkammer entnazifizieren lassen. Auch hier hatte man von den Topf’schen KZ-Öfen gehört. Die hessische Spruchkammer bat die Kriminalpolizei in Erfurt, Beweise über das Geschäft mit den KZ zu sichern und Zeugen zu benennen. Am 4. 8. 1947 antwortete Kriminalassistent Ziegenbein, Topf habe die Verbrennungsöfen geliefert und sei deshalb geflüchtet: „Monteure und Arbeiter, die mit dem Bau der Öfen betraut waren, beantragten wiederholt ihre Befreiung von diesen Montagen, wurden aber von Ernst-Wolfgang Topf gezwungen, diese Montage zu Ende zu führen. Bei Nichtbefolgen wurde diesen Leuten mit ihrer Einberufung in den Wehrdienst gedroht.“ Keine Zeugen wurden benannt, keine Dokumente geliefert. Der Vorsitzende der Spruchkammer schrieb zurück: „Ich bitte Sie, mir die genauen Anschriften von Zeugen mitzuteilen, die über den Bau der Krematorien berichten könnten. Soweit der Unterzeichner des Briefes, ein Herr Ziegenbein, Augenzeuge verschiedener Tatbestände war und selbst über den Krematorienbau berichten kann, bitte ich, mir dies anzugeben.“

Ahnte die Spruchkammer damals, was Walter Bredehorn heute eher beiläufig erzählt? Kurt Ziegenbein gehörte auch zur KPD-Betriebszelle und ging nach dem Einmarsch der Sowjets mit mehreren Genossen zur Kriminalpolizei. Walter Bredehorn muss es wissen. Seinen Vater hatten die Sowjets zum Polizeipräsidenten von Erfurt ernannt.

Kurt Ziegenbein lieferte weiterhin keine konkreten Hinweise. Zu diesem Zeitpunkt wussten nur die Sowjets und die Eingeweihten bei Topf & Söhne, dass die Firma außer den Öfen auch die Gaskammern gebaut hatte. Das sollte wohl so bleiben. War man sich bewusst, dass es auch für den Arbeiter einen Unterschied macht, dem Mörder ein Gerät zur Beseitigung der Leiche zu bauen oder ihm eine Mordwaffe speziell anzufertigen? Die Spruchkammer schaltete die Staatsanwaltschaft in Wiesbaden ein: „Der Betriebsrat müsste doch einzelne Personen namhaft machen können, die geradestehen für ihre Aussagen.“

Heinrich Messings Tochter glaubt nicht, dass ihr Vater als Zeuge aufgetreten wäre: „Er hätte Angst gehabt, dann verurteilt zu werden und ging lieber kein Risiko ein.“ Die Staatsanwaltschaft übernahm den Fall und ermittelte gegen Ernst-Wolfgang Topf „wegen Beihilfe zum Mord“. Auch sie bat mehrmals die Kriminalpolizei in Erfurt um Unterstützung. Zuletzt 1950. Ohne Erfolg. Dabei wäre es so einfach gewesen, den wichtigsten Zeugen – Heinrich Messing – zu befragen. Auch er arbeitete seit 1945 bei der Kriminalpolizei in Erfurt.

Das Verfahren im Westen wurde eingestellt. Ernst-Wolfgang Topf gründete in Wiesbaden seine Firma neu und baute bis 1963 Krematorien. Heinrich Messing verließ 1951 die Polizei und arbeitete als Personalleiter in verschiedenen Betrieben. Er blieb der SED treu. Als „anerkanntes Opfer des Faschismus“ bezog er eine Rente. 1985, im Alter von 83 Jahren, starb er in Erfurt. Über seine Zeit in Auschwitz findet sich in seiner Stasi-Akte ein Hinweis: „Während des Krieges war er in Polen als Arbeiter in kriegswichtigen Betrieben tätig.“

Dieser Artikel beruht auf Recherchen für das Radio-Feature des Autors: „In Auschwitz auf Montage – Die KPD-Betriebszelle bei Topf & Söhne“, Erstsendung am Dienstag, 14. Juni, um 14.05 Uhr in der Sendereihe „Dschungel“ auf SWR 2. Am 19. Juni 2005 eröffnet die Ausstellung „Techniker der ‚Endlösung‘. Topf & Söhne – Die Ofenbauer von Auschwitz“ im Jüdischen Museum Berlin, www.topfundsoehne.de