Schafft die Länder ab

In spätestens drei Jahren würde der deutsche Föderalismus auch eine Bundeskanzlerin Angela Merkel blockieren können – wenn sie ihn bis dahin nicht reformiert hat

Auch Merkel wird nach der Wahl die Macht des Bundesrates zu spüren bekommenDie Bundesstaatlichkeit ist ein Grund für die Probleme dieses Landes

Die Regierung wird wechseln und ein Fenster geht auf. Dann wird es im Bundestag endlich wieder die gleiche Mehrheit geben wie im Bundesrat. Angela Merkel wird politikfähig sein, wie Rot-Grün es schon seit Jahren nicht mehr war. Sie hat den unionsdominierten Bundesrat hinter sich, nicht gegen sich.

Doch sehr schnell wird sich dieses Window of Opportunities wieder schließen. Die Union wird eine Landtagswahl nach der anderen verlieren – bis der Bundesrat wieder in der Hand der Opposition ist, diesmal der SPD. Es ist fast zum Naturgesetz geworden: Bei Landtagswahlen strafen die Bürger die jeweilige Bundesregierung ab. Und für Merkel wird das kaum anders sein, schließlich kommt sie nicht deshalb an die Macht, weil sie und ihr Programm eine Aufbruchstimmung auslösen.

Etwa drei Jahre wird es dauern, so schätzen Unionspolitiker, bis die Länderkammer gedreht ist. Dann muss auch Kanzlerin Merkel bei allen zustimmungsbedürftigen Gesetzen – und das sind rund 60 Prozent aller Vorhaben – mit einem parteipolitisch motivierten Veto des Bundesrats rechnen. Faktisch beginnt dann wieder eine inoffizielle große Koalition, bei der alle wichtigen Reformen zwischen Regierung und Opposition langwierig ausgedealt werden, ohne Transparenz und ohne klare Verantwortlichkeit. Und wenn die starken CDU-Landesfürsten ihre Muskeln spielen lassen, dann wird Merkel die Macht des Bundesrates gleich nach der Bundestagswahl zu spüren bekommen.

Die Kanzlerin hätte deshalb allen Grund, die Föderalismusreform voranbringen, die im Dezember 2004 beim Streit um die Bildungskompetenzen stecken geblieben ist. Hauptziel dieser Reform war ja, die Zahl der zustimmungspflichtigen Gesetze deutlich zu senken. Dabei braucht Merkel aber auch die SPD, da für Änderungen am Grundgesetz eine Zweidrittelmehrheit erforderlich ist. Doch die SPD freut sich vielleicht schon auf die kommenden Blockademöglichkeiten im Bundesrat. Nichts ist im Föderalismus schwieriger als die Reform des Föderalismus.

Doch bei mancher Erneuerung des Bundesstaats wäre man heute sogar froh, sie hätte nie stattgefunden. So konnten die Länder 1994 eine Grundgesetzänderung durchsetzen, deren Folgen erst langsam deutlich werden. Auf den meisten Politikfeldern – konkret: bei der konkurrierenden und der Rahmengesetzgebung – darf der Bund seither nur noch Gesetze beschließen, wenn es wirklich „erforderlich“ ist, die Materie bundeseinheitlich zu regeln. Seit einigen Jahren kontrolliert das Bundesverfassungsgericht streng und hat schon die Bundesregelungen zum Juniorprofessor sowie das bundesweite Verbot von Studiengebühren gekippt.

Der Bund leidet derzeit also gleich unter zwei Föderalismusfolgen. Einerseits bedürfen fast zwei Drittel seiner Gesetze der Zustimmung in der Länderkammer, andererseits ist immer häufiger fraglich, ob der Bundestag überhaupt zuständig ist. Im Zweifelsfall kann jedes Land in Karlsruhe klagen, ja sogar jeder betroffene Bürger, dem ein Bundesgesetz nicht gefällt. Es folgt jahrelange Rechtsunsicherheit.

Die Kunst einer zukunftsweisenden Föderalismusreform besteht deshalb darin, alle Webfehler zu beseitigen, ohne den Ländern weitere fatale Zugeständnisse zu machen, etwa indem sie neue eigene Zuständigkeiten in der Gesetzgebung erhalten. Denn bei Lichte betrachtet, muss der Föderalismus in Deutschland nicht gestärkt, sondern so weit wie möglich zurückgedrängt werden. Die Bundesstaatlichkeit Deutschlands ist heute nicht nur überflüssig, sondern auch ein Grund für die Probleme dieses Landes.

Nichts macht Deutschland bürokratischer als der Föderalismus. So befassen sich mit jedem Bundesgesetz stets auch 16 Landesministerien. Und jedes Landesgesetz muss parallel sechzehnmal erarbeitet werden. Allerdings nutzen die Länder selbst die verbliebenen Gestaltungsmöglichkeiten kaum, sondern sorgen über Staatsverträge und andere exekutive Instrumente doch wieder für einheitliche Standards, so dass die Landesparlamente auch hier kaum etwas zu sagen haben.

Diesem Pseudoföderalismus setzen Neoliberale die Idee eines Wettbewerbsföderalismus entgegen, bei dem die Länder mit unterschiedlichen Lösungsansätzen um die besten Ergebnisse wetteifern. Doch diese Idee ist eine Kopfgeburt. Solange die Länder so unterschiedlich stark sind wie derzeit und sich auch jeder Neugliederung widersetzen, wird es diesen Wettbewerb nicht geben. Auch die Bürger bevorzugen einheitliche Lebensverhältnisse und haben gar kein Interesse daran, dass in jedem Bundesland und damit auch nach jedem länderübergreifenden Umzug etwas anderes gilt. Selbst für Unternehmen wäre es lästig, wenn in jedem Bundesland ein anderes Wirtschafts-, Arbeits- und Umweltrecht bestünde.

Die deutschen Länder – von Mecklenburg-Vorpommern bis Baden-Württemberg – sind in der Regel Kunstgebilde ohne eigene Identität. Wie echter Föderalismus aussieht, zeigt dagegen die Europäische Union. Deren Mitgliedsstaaten – von Portugal bis Malta – haben eine eigene Geschichte, eigene Diskursräume und nutzen ihre Kompetenzen auch zur eigenständigen Gestaltung. Die Zukunft der föderalistischen Idee ist europäisch. Deshalb muss auch niemand Angst vor einem deutschen Zentralstaat haben. Denn Europa bietet viele neue Checks and Balances.

Die Länder sind auch nicht erforderlich, um bürgernahe Politik zu gewährleisten. Hier gilt es vielmehr, die Kommunen und Landkreise zu stärken. Vor Ort können sich die Bürger am leichtesten einbringen, hier sehen sie die Folgen politischer Entscheidungen am unmittelbarsten. Außerdem ist es überfällig, direkte Demokratie auf allen Ebenen zuzulassen. Wer über Sachfragen mitbestimmen kann, wird keine Landtagswahlen vermissen.

Doch eine solch weitgehende Staatsreform ist weit entfernt und kann nicht über Nacht geschaffen werden. Der Widerstand der Ministerialbeamten und Landespolitiker aller Parteien wäre viel zu hoch. Vermutlich müsste auch das Grundgesetz von einer verfassungsgebenden Versammlung völlig neu konzipiert werden.

Kurzfristig wäre aber schon viel gewonnen, wenn die nächste Föderalismusreform die Handlungsfähigkeit der Bundespolitik wirksam erhöht, ohne gleichzeitig die Landesbürokratien zu stärken. Es kann hier nicht um scheinbar ausgewogene Lösungen gehen. Der Bundesrat muss zurückgedrängt und die Gesetzgebung des Bundes gestärkt werden, am besten ohne jede Kompensation.

Viele bezeichnen die Föderalismusreform als „Mutter aller Reformen“. Wenn Angela Merkel wirklich etwas bewegen will, dann sollte sie hier ansetzen. Sie könnte und müsste dabei Führungsstärke gegenüber den Landesfürsten ihrer Partei beweisen. Und wenn die SPD signalisieren will, dass sie sich noch für die Macht im Bund interessiert, sollte sie sich einer solchen Reform nicht verweigern.

Christian Rath