„Ich bin ein Freak, ein Chaot“

In „Crossing the Bridge“, seinem neuen Film, stellt Fatih Akin die Musik Istanbuls vor. Ein Gespräch über Fremdenführer und Wikinger, Königinnen und Überväter – und den Zuwachs an Verantwortung, den der Erfolg von „Gegen die Wand“ bedingt

INTERVIEW DANIEL BAX

taz: Herr Akin, nach dem großen Erfolg mit „Gegen die Wand“ lassen Sie statt eines neuen Spielfilms nun eine Dokumentation über die Musikszene in Istanbul folgen. Ist das ein Schachzug, um den Erwartungsdruck zu mildern?

Fatih Akin: Nein, das ist Zufall. Die Idee zu „Crossing the Bridge“ entstand bereits während der Dreharbeiten zu „Gegen die Wand“, als Alexander Hacke mit dem Orchester von Selim Sesler die Aufnahmen für den Soundtrack machte. Weil die beiden über keine gemeinsame Sprache verfügten, haben sie über die Musik kommuniziert. Das fand ich faszinierend.

Ich sehe „Crossing the Bridge“ als eine Art Ergänzung zu „Gegen die Wand“, weil dieser Film ja auch sehr stark von der Musik geprägt war.

Muss man „Crossing the Bridge“ also als eine Art „Making of“ verstehen? Der Film erklärt ja den Hintergrund der Musik.

Ja, auch. Aber wie in meinen Filmen habe ich mich vor allem für bestimmte Figuren interessiert. Viele davon, die Straßenmusiker oder die Rapper, könnten ja aus meinen Spielfilmen stammen. Die Musik ist zwar das zentrale Thema. Aber wir haben uns dem nicht über die Instrumente genähert, sondern über die Personen.

Wie kam es zu der Entscheidung, ausgerechnet Alexander Hacke, den Bassisten der Einstürzenden Neubauten, als Hauptfigur auf Erkundungstour durch Istanbul zu schicken? Er wirkt ja ein wenig wie ein Tourist in einer fremden Stadt.

Ich wollte zeigen, wie sich jemand seinen Weg durch die Stadt erkundet – nicht jemand, der das alles schon kennt. Sondern jemand, der mit dem Zuschauer gemeinsam die Stadt entdeckt. Ich habe ein wenig an einen Detektivfilm gedacht dabei. Darum sind manche Szenen auch so ein bisschen Film-noir-mäßig gedreht: Ein Detektiv streift durch die Häuserschluchten. Istanbul eignet sich dafür besonders gut, finde ich.

Aber es bleibt der fremde Blick. Warum haben Sie nicht selbst den Fremdenführer gespielt?

Mir war es sehr wichtig, dass es ein Musiker ist. Ich kann mich gut mit Alexander Hacke identifizieren. So ähnlich, wie er die Stadt für sich entdeckt hat, so habe ich sie auch erst allmählich entdeckt.

Außerdem verkörpert er etwas sehr Westliches: Er sieht ja manchmal aus wie ein Wikinger, wie er so durch die Straßen wandert, oder wie ein Cowboy. Ich mochte dieses Bild von diesem Hünen, der durch die fremde Stadt geht. Er hat etwas von dem Dude aus „The Big Lebowsky“.

Der Film fängt auch mit einem sehr westlichen Sound an, mit Rock und HipHop, und taucht dann immer tiefer in orientalischere Klänge ein.

Wir haben diese musikalische Dramaturgie bewusst gewählt: Über elektronische Musik, Rock und HipHop, die den Zuschauern vertraut sind, kommen wir nach und nach zu den Ursprüngen dieser Melange, über das globalisierte Istanbul zu der Identität dieser Leute.

Ich weiß ja von meinen deutschen Kumpels, dass sie Jahre gebraucht haben, um sich in die türkische Musik reinzuhören und sich an sie zu gewöhnen. Die erste Assoziation ist oft: Was ist das denn für ein Katzenjammer? Deswegen haben wir uns für diesen Aufbau gewählt: Wenn man dann am Ende Orhan Gencebay oder Müzyyen Senar hört, ist man nicht mehr ganz so geschockt.

Es ist trotzdem sehr viel Stoff geworden für 90 Minuten.

Ich habe 150 Stunden Material gedreht und sieben Monate an dem Film geschnitten. Dabei hatte ich mir vorgestellt, ich mache so einen kleinen Film locker aus der Hüfte, so nebenbei.

Für die meisten Zuschauer dürfte „Crossing the Bridge“ wie ein erschöpfendes Panorama wirken. Dabei zeigt es lediglich einen Ausschnitt der Szene.

Klar, in der Türkei fragt man uns: Warum habt ihr nicht diesen oder jenen Musiker dabei? Dennoch dürften die deutschen Zuschauer fast überfordert sein von all den Namen und Klängen. Aber dieses Gefühl der Überforderung, das einem alles um die Ohren fliegt, das wollte ich in meinem Film auch vermitteln. Denn: Die Stadt ist ja so.

Sie hätten auch ganz andere Musiker wählen können.

Ich hatte noch ganz andere Namen auf dem Zettel. Aber es war eh schon schwierig genug, die Musiker für das Projekt zu begeistern. Manche haben gefragt: Wer ist denn da noch dabei? Also, wenn der dabei ist, mach ich nicht mit: Das lag latent in der Luft. Zum Beispiel hat der Percussionist Burhan Öcal in der Presse behauptet, der Film handele nur von ihm – daraufhin hat es prompt eine Reihe Absagen gehagelt. Das hätte fast das ganze Projekt gefährdet. Jetzt kommt er gar nicht mehr vor.

Am Ende haben Sie aber mit Orhan Gencebay, dem Übervater des Arabesk-Stils, und der Pop-Diva Sezen Aksu nicht nur zwei der größten Stars, sondern auch Ihre persönlichen Helden porträtiert, oder?

Das hat natürlich auch viel mit persönlichem Geschmack zu tun. Wir haben uns für Orhan Gencebay entschieden, weil er eine fast mythische Figur ist.

Außerdem haben wir uns an musikalischen Einflüssen orientiert. Als wir etwa die Band Baba Zula gefragt haben, wer sie inspiriert hat, dann war die Antwort eindeutig: Orhan Gencebay. Weil er der Mann war, der die Saz (Anatolische Langhalslaute, d. Red.) in die Stadt gebracht hat. Und Baba Zula leben von der Elektro-Saz.

Bei Sezen Aksu herrscht allerdings eine große Distanz – noch mehr als bei Orhan Gencebay, der ja auch hinter seinem Schreibtisch wie hinter einem Bollwerk thront. Die Szene wirkt extrem statisch. Sie hat Ihnen noch nicht mal ein Interview gegeben. Warum?

Ich habe sie höflich gefragt, ob sie mir ein Interview geben würde, und sie hat höflich Nein gesagt. Dann habe ich nicht weiter darauf beharrt. Trotzdem sind wir beide dicke Freunde geworden. Das war für mich das Größte überhaupt: Ich bin schließlich schon immer ein Fan von ihr und habe Lieder von ihr in all meinen Filmen benutzt. Inzwischen hat sie mir angeboten, ich könnte jederzeit ihre Songs benutzen, sie würde mir sogar einen Soundtrack schreiben. Außerdem hat sie mich eingeladen, ihr nächstes Video zu drehen.

Von diesem herzlichen Verhältnis merkt man im Film nicht viel. Wollten die türkischen Stars ihren Status wahren?

Auf jeden Fall. Sezen Aksu ist eine Königin, und eine Königin hat eben einen Hofstaat. Wenn man erst einmal zu ihr vorgedrungen ist, dann ist alles ganz locker. Aber so weit muss man erst einmal kommen.

Ist das bei Ihnen nicht mittlerweile ähnlich?

Nein. Natürlich habe ich mir mit meiner Firma „Corazon“ auch eine Infrastruktur von Leuten um mich herum aufgebaut: Das braucht man irgendwann, um all das zu machen, was man möchte. Aber ich versuche, das vom Privatleben zu trennen. Und ich bin ja auch kein Popstar.

Seit „Gegen die Wand“ gehören Sie aber zu den wichtigsten deutschen Regisseuren und werden zu allem und jedem gefragt – von Frauenrechten bis zum EU-Beitritt der Türkei. Wägt man da die Worte vorsichtiger?

Ja, wobei ich diese Verantwortung gar nicht so annehmen will. Wer bin ich denn? Ich bin ein Freak, ein Chaot. Ich will als Filmemacher ernst genommen werden.

„Gegen die Wand“ hat ja die jüngste Diskussion um Ehrenmorde und Zwangsehen vorweggenommen. Wie empfinden Sie die Debatte?

Das Gute ist, dass gesagt wird: Da sind Menschen, die brauchen unsere Hilfe, und wir müssen etwas für sie tun. Ich denke, was man dagegen tun kann, ist langfristig in die Erziehung investieren. Je höher der Bildungsgrad, desto weniger kann so etwas passieren. Aber das geht nicht von heute auf morgen: So etwas braucht Zeit und Geld. Andererseits ist die Gefahr da, das alles über einen Kamm geschoren wird, nach dem Motto: Alles Barbaren, alles Machos und Bauern. Das führt schnell zum Rassismus. Auf diesem schmalen Grat bewegt sich die Debatte.

Warum hat es diese Diskussion nicht gegeben, nachdem Tevfik Baser „40 qm Deutschland“ gedreht hat?

Warum nicht?

Weil es einfach ignoriert wurde. Aber jetzt? Ich vermute mal, das hat viel mit dem EU-Beitritt der Türkei zu tun.

Ihr Film hat ja hierzulande auch unter Deutschtürken ein großes Echo gefunden. Sehen Sie sich als Aufklärer?

Das ist sicher derjenige meiner Filme, den die meisten Deutschtürken gesehen haben. Das hat aber den ganz einfachen Grund, das der Film parallel in der Türkei und in Deutschland gestartet ist. Die ganzen türkischen Haushalte hierzulande informieren sich über das türkische Fernsehen: Die wissen genau, welcher Film gerade in der Türkei anläuft, und wenn der dann auch in Deutschland läuft, dann schauen sie ihn sich an: So viel zum Stichwort mediale Parallelgesellschaft. Mit „Gegen die Wand“ haben wir diese Struktur ausgenutzt, und das hat sich ausgezahlt. Darum läuft auch „Crossing the Bridge“ jetzt zeitnah in der Türkei an.

Um auch die Türken in Deutschland zu erreichen?

Mir ist das sehr wichtig: Meine Brüder und Schwestern hier, die sich so gerne als Türken outen, indem sie Halbmonde am Hals tragen, die wissen ja so wenig von der aktuellen Türkei. Die kennen weder den Schriftsteller Orhan Pamuk noch den Regisseur Nuri Bilge Ceylan oder die Band Baba Zula, und sie wissen nichts von türkischer Geschichte. Das ist so ähnlich wie mit den Schwarzen in den USA, die nichts über ihre Herkunft wissen: Das lernen sie schließlich nicht in der Schule. Gerade darum müsste sie der Film doch interessieren: Weil er zeigt, was jetzt in der Türkei so passiert. Deshalb wäre es schade, wenn sie das gar nicht mitkriegen würden.

„Crossing the Bridge“. Regie: Fatih Akin. Musikdokumentation mit Selim Sesler, Sezen Aksu, Alexander Hacke u. a. Deutschland 2005, 90 Min.