Dies ist keine Leere

Flüchte, Augenblick, damit du bildende Kunst werden kannst: Eine Begegnung mit dem Flüchtigkeitskünstler und Momente-Aktualisierer Tino Sehgal, der von kommender Woche an (zusammen mit dem Maler Thomas Scheibitz) bei der Biennale in Venedig den Deutschen Pavillon gestalten wird

„Dies ist keine Pfeife“, sagt Magritte – Sehgal erweitert den Satz entschieden

VON SEBASTIAN FRENZEL

Tino Sehgal mag Orte, an denen er noch nicht war. Gerne wäre er für das Interview daher in ein kleines Café am Rande Kreuzbergs gekommen, aber dann drängten die Termine, so dass das Treffen doch in der Tucholskystraße in Berlin-Mitte, unweit seiner Wohnung, stattfinden muss. Sehgal ist ein gefragter Mann und hat alle Hände voll zu tun, denn zusammen mit dem Maler Thomas Scheibitz wird er den Deutschen Pavillon bei der Biennale in Venedig gestalten, die am 12. Juni eröffnet wird.

Gestresst wirkt er jedoch nicht, als er zum Gespräch erscheint. Er wirft seinen schwarzen Trenchcoat über die Lehne, bestellt einen Tee und lässt sich in die weichen Polster sinken. Und beginnt zu erzählen. Von diesem Café, und wie er als Neu-Berliner Mitte der 1990er-Jahre das erste Mal herkam. Und von der Musik, die damals hier lief und die er mochte. Sympathisch ist er und bescheiden, dabei hätte er fast schon ein Anrecht auf Allüren. Ist doch die Einladung zur Biennale nur der Höhepunkt einer beeindruckenden Laufbahn: Sehgal stellte bei der Frieze Art und im ICA in London aus, er war auf der Manifesta in Frankfurt und der Biennale in Moskau vertreten, er nahm an Hans-Ulrich Obrists Projekt „Do it“ teil und erhielt vor zwei Jahren den Kunstpreis der Böttcherstraße in Bremen. Und Tino Sehgal ist gerade mal 29 Jahre alt.

Um zu verstehen, was diesen Mann international für Aufsehen sorgen lässt, sollte man sich in eine seiner Ausstellungen hineindenken. Man stelle sich also vor, man kommt in den Galerieraum und sieht: nichts. Der Raum ist leer, da ist kein Bild und keine Skulptur. Und plötzlich tritt der Museumswärter auf einen zu, hüpft von einem Bein aufs andere, lässt seine Arme kreisen und ruft: „This is good. Tino Sehgal. 2001.“ In einer anderen Arbeit ist es eine Frau, die aus heiterem Himmel zusammenbricht, sich auf dem Boden räkelt, dann aufsteht und ruhig sagt: „Tino Sehgal. This exhibition. 2004. Courtesy the artist.“

Was wie ein Zufall wirkt, ist das Ergebnis eines einstudierten Handlungsablaufs. Sehgal inszeniert Situationen, in denen der Besucher unmittelbar angesprochen, zu einer Reaktion herausgefordert ist. Er überrascht die Besucher, aber er überfordert sie nicht. Die kurzen Augenblicke, in denen sich etwas ereignet, unterlegen vielmehr das Gefühl des Entzugs, den Eindruck, dass hier etwas fehlt. Denn mehr als über die Aktionen der Interpreten wundert man sich über den Rahmen, in dem sie stattfinden; darüber, wie hier gängige Ausstellungskonventionen unterlaufen werden. „Buchstäblich jedes Kind weiß, dass das Museum der Tempel der Dinge ist, und diese Konstante ist in meinen Werken aufgehoben.“ Ein Performance- Künstler also? „Auf gar keinen Fall“, betont Sehgal, und an diesem Punkt wird er ernst. „Meine Werke gehören ins Museum.“

Ein bildender Künstler, der keine materiellen Objekte herstellt – dieser Widerspruch erklärt sich am besten vor Sehgals Biografie. Und vor einem weiteren Paradox, auf das man darin stößt. Tino Sehgal, 1976 als Kind eines Inders und einer Deutschen in London geboren, studierte Volkswirtschaftslehre und Tanz; eine Fächerkombination, die sich diametral entgegenzustehen scheint. „Ich war als Jugendlicher an Politik interessiert und habe dann Volkswirtschaftslehre studiert, um die Grundlagen zu verstehen, um zu sehen, wie unsere Wirtschaftsordnung funktioniert“, erklärt Sehgal. „Generell ist es ja so, dass unsere Gesellschaft sich noch immer über den technischen Fortschritt definiert: Entwicklung heißt, durch das Fortschreiten von technischen Möglichkeiten natürliche Ressourcen in immer raffiniertere Dinge umzuwandeln. Dabei haben wir ja längst einen Angebotsüberschuss an Grundversorgung, zudem ist dieser Produktionsmodus auf Dauer nicht tragfähig und auch ein bisschen langweilig. Für mich war also die Frage, wie man dem etwas entgegensetzen kann, ohne gleich in Askese zu verfallen.“

Dass er sich auf der Suche nach einer Antwort dem Tanz zuwandte, habe damals kaum einer seiner Freunde oder Verwandten verstanden. Auch er selber muss schmunzeln, als er erzählt, wie sich das, was damals eher intuitiv ablief, rückblickend so schlüssig zusammenfügt. „Ich wollte also sehen, ob es nicht auch andere Formen gibt, etwas zu produzieren. Und da war der Tanz für mich eine erste Lösung: Man ist beschäftigt, man macht etwas, aber materiell stellt man nichts her – dennoch ist es ein Ding oder ein Werk, über das man sprechen und nachdenken kann.“

Mit der politischen Motivation auf der einen, dem Tanz als Form auf der anderen Seite wandte sich Sehgal der Kunst zu. „Was mich an der Kunst affiziert hat, das ist die Duchamp-Tradition, diese Möglichkeit, dass ein Bereich gleichzeitig sich selbst different werden und identisch bleiben kann. Die Objekthaftigkeit der Kunst hat mich hingegen nie interessiert. Denn jedes objekthafte Kunstwerk affirmiert ja diesen heute höchst problematischen Produktionsmodus der Transformation von Materie, da es auch dementsprechend hergestellt wurde.“

Sehgal hingegen transformiert kein Material, sondern Handlungen, er arbeitet mit flüchtigen Worten und Bewegungen, statt seine Werke raum-zeitlich zu fixieren. Und er führt diesen Weg konsequent zu Ende: Es gibt weder Fotos noch Videoaufzeichnungen seiner Arbeiten; gespeichert sind sie einzig im Gedächtnis der Beteiligten. Gleichwohl kann man einen „Sehgal“ kaufen – aber nur mündlich vor einem Notar, bei dem ausgehandelt wird, wie und wo die Arbeit durchgeführt werden darf.

Sucht man in der Kunstgeschichte nach Vergleichen für Sehgals Verfahrensweise, stößt man bald auf Yves Klein, den großen Meister des Nichts und der Meditation über die Leere. 1958 lud der in die Pariser Galerie Iris Klert, in der nichts zu sehen war außer den weiß bemalten Wänden, und nannte das Ganze „Le vide“ – die Leere. Tino Sehgal: „Das Spirituell-Aufgeladene an Kleins Arbeiten ist mir suspekt, aber ‚Le vide‘ ist schon eine wichtige Arbeit für mich.“ Sehgals erste Ausstellung spielte sogar direkt auf Kleins Werk an – doch mit einer deutlichen Erweiterung. Zwar ließ auch Sehgal den Galerieraum völlig entleeren, trat der Besucher aber ein, so schritt der Galerist rückwärts aus seinem Büro und sprach – in Anlehnung an Magritte – die Worte: „Ceci n’est pas le vide“: Dies ist keine Leere.

Man kann diesen Satz wohl als programmatisch für Sehgals Schaffen verstehen. Denn Sehgal will über die Leere hinausgehen, ohne sich ins Metaphysische zu verlieren. „Mir geht es darum, zu gucken: Was kommt nach der Leere, wie kann ich jenseits von Askese oder reiner Negation etwas Neues schaffen. Ein Element ist dabei sicherlich auch die Ermächtigung des Betrachters. Jeder, der reinkommt, merkt: Was ich tue, ist bedeutsam.“ So ist das, was die Besucher sehen, zwar von den Instruktionen abhängig, die Sehgal mit seinen Interpreten einstudiert hat, dennoch bleiben die Arbeiten hochgradig kontingent. „Normalerweise gibt es die Subjektivität eines Künstlers, und die lagert er dann aus in ein Werk, steht irgendwann davor und denkt: das ist meins. Dem folge ich zunächst auch, aber ich kann das eben nur bedingt. Meine Arbeiten liegen in einer gewissen Potentialität – sie aktualisieren sich, wenn der Besucher hereintritt. Was dann geschieht, unterliegt nur bedingt meiner Kontrolle.“

Das Experimentelle seiner Arbeiten trat auch in Sehgals Ausstellung im ICA in London hervor. Fünf Männer kamen da auf den Besucher zugelaufen, blieben in einem Kreis um ihn herum stehen und riefen: „The objective of this work is to become the object of the discussion.“ Sobald ein Besucher etwas darauf erwiderte, nahmen die Interpreten das Gesagte auf und eröffneten so (dem Schein nach) eine kunstwissenschaftliche Debatte. Die tautologische Falle schnappte zu: Die Diskussion war zum Werk geworden, das es zum Ziel hatte, Objekt der Diskussion zu werden.

Für Sehgal steckt in solchen Situationen auch ein spielerisches Moment: „Die Sache kann nur funktionieren, weil es bestimmte Konventionen gibt, und diese Situation spielt mit diesen Konventionen.“ Doch gehen seine Werke nicht im Repräsentationalen auf, sondern erkunden vielmehr einen Raum zwischen Wirklichkeitsverweis und kunstimmanenten Reflexionen. Im Aufeinandertreffen von Besuchern und Sehgals Interpreten entwickelt sich so ein Zusammenspiel, das keinen Regeln folgt, sondern diese erst entwickelt. Und vielleicht ist dies gerade das Faszinierende an Sehgals Arbeiten: Dass er Situationen arrangiert, in denen die Kategorien von Künstler, Werk und Betrachter verwischen. Dass sich an diesem Nullpunkt der White-Cube-Logik etwas ereignet, das in seiner Flüchtigkeit jeden Versuch von Interpretation Lügen straft; etwas, das bedeutsam ist, aber auf keine Bedeutung hin festgezurrt werden könnte.

Was er für die Zeit nach der Biennale plane? Weiter in Richtung Interaktion und Spiel will Tino Sehgal gehen, noch stärker will er Momente schaffen, die eine Eigendynamik entwickeln. Die Besucher seiner Arbeiten sollen in unbekannte Situationen geraten. An Orte, die sie vorher nicht kannten.