Blanke Wut am Weißen See

VOLKSZORN In Pankow entsteht ein Wohnprojekt für psychisch kranke Straftäter. Das ruft massive Anwohnerproteste hervor. Für Argumente sind viele kaum noch empfänglich

„Seit 20 Jahren höre ich von Freigängern, die Kinder schänden“

Weißenseer Wutbürger

VON MARINA MAI

„Familienkiez in Angst“ steht auf einem Transparent, „Wer schützt unsere Kinder?“ auf einem zweiten. Die Menschen, die sie halten, sind nicht zu einer Demonstration gekommen, sondern zu einer Bürgerinformation in die Pankower Grundschule am Weißen See. Die Aula ist auf 150 bis 200 Menschen ausgerichtet. Gekommen sind am Montagabend 400. Einige sitzen auf der Bühne, die Stimmung ist explosiv.

Die Wut der Bürger entzündet sich an einer Baustelle im Kiez am idyllischen Weißen See. Die Zeitraum gGmbh baut in einem ehemaligen Gefängnis in der Großen Seestraße ein therapeutisches Wohnprojekt für psychisch kranke Straftäter. Das sorgt seit Wochen für Aufruhr. Die Boulevardpresse hat ein Übriges getan, die Stimmung aufzuheizen.

Ende des Jahres sollen 20 Apartments für ehemalige Straftäter entstehen, die aus dem Maßregelvollzug entlassen werden können, weil von ihnen keine Gefahr mehr ausgeht, die auf ein selbständiges Leben aber noch vorbereitet werden müssen. So die Pläne.

Die Ablehnung der meisten Gäste gegen die neuen Nachbarn ist grundsätzlicher Natur. „Wir wollen sie nicht“, bringt es eine Frau mit vor Aufregung rotem Gesicht auf den Punkt. Eine Mutter zweier Kinder ergänzt: „Wer einen Menschen tot geschlagen hat, egal ob psychisch krank oder nicht, der hat in meinen Augen das Recht auf diese Gesellschaft verwirkt.“ Und wenn jemand von den Bewohnern einem Kind auch nur ein Haar krümme, „dann sorge ich dafür, dass der kein Wohnprojekt mehr braucht“.

Rolf Bayerl, ärztlicher Direktor des Maßregelvollzugs, versucht trotz der nicht auf den großen Saal ausgelegten Lautsprecheranlage, die Weißenseer zu beruhigen. „Sexualstraftäter, Totschläger und Wiederholungstäter sind für dieses Wohnprojekt nicht vorgesehen. Unsere Bewohner haben bereits im Maßregelvollzug begleitete und unbegleitete Ausgänge beanstandungsfrei absolviert, sonst kämen sie für dieses Projekt nicht infrage.“ Bayerl spricht Klartext: „Flugblätter, die hier kursieren und von Psychoknast, Kinderschändern und Totschlägern sprechen, beleidigen unsere Bewohner.“

Ausgebrannte Stadträtin

Kaum einer will das hören. Auch Bayerls Aussagen, dass ähnliche Wohnprojekte in Lankwitz und Mitte nie zu Beschwerden aus der Nachbarschaft geführt hätten, finden keinen Glauben. Noch weniger als dem Arzt gelingt es Pankows Gesundheitsstadträtin Lioba Zürn-Kasztantowicz, sich auf der schlecht moderierten Veranstaltung Gehör zu verschaffen. Die SPD-Stadträtin, die seit Wochen den Weißenseern und der Boulevardpresse Rede und Antwort zum Thema stehen muss, wirkt ausgebrannt. Lautstark wird ihr Rücktritt gefordert: Sie habe zum Standort mitten in einem kinderreichen Kiez keine Alternativen geprüft und die Bürger zu spät informiert. Die Standortfrage hatte zwar der Bezirk nicht zu verantworten – aber Zürn-Kasztantowicz ist eben die einzige Politikerin im Saal.

Bürger verlangen von ihr unter tosendem Beifall, bei Klaus Wowereit einen Alternativstandort zu fordern. Und die Weißenseer machen auch Vorschläge: Im dünn besiedelten Brandenburg etwa, wo die Bewohner mit Tieren spielen könnten. Ein Mitarbeiter der Gesundheitsverwaltung wendet ein, es handele sich um Berliner, und die Landesregierung könne das Problem nicht einfach einem anderen Bundesland übertragen.

Ein älterer Mann sagt: „Seit zwanzig Jahren höre ich von Freigängern, denen Psychologen eine Ungefährlichkeit bescheinigt haben und die trotzdem Kinder schänden.“ Ein Rentner macht seinem Unmut Luft: „In Weißensee gibt es jetzt so viele mongoloide Kinder und Kampfradfahrer. Wo soll das noch hinführen?“

Doch nicht alle argumentieren auf Stammtischniveau. Einige sind mit Verwaltungshandeln vertraut und suchen verzweifelt nach dem formalen Fehler beim Verkauf des öffentlichen Grundstücks oder im Bebauungsverfahren, um das Projekt juristisch stoppen zu können. Eine Bürgerinitiative gibt es schon. Immerhin haben Träger und Behörden die Anwohner nicht rechtzeitig über das Vorhaben informiert. Wurden hier Gesetze verletzt?

Auch die Kosten von 1,8 Millionen Euro für 20 Apartments stehen in der Kritik. Die Erklärung, die Kosten hier seien geringer als im Maßregelvollzug, das Land spare also Geld, verfängt nicht. Der Volkszorn macht sich Luft: „Für vernünftige Schulklos fehlt das Geld. Aber für psychisch kranke Straftäter bauen Sie Apartments! Deutschland ist zu einem kinderunfreundlichen Land geworden!“

Zum Schluss tritt eine ältere Frau ans Mikrofon. „Ich bin heute traurig über mein Weißensee, in dem ich seit 60 Jahren wohne“, sagt sie zu den Anwesenden. Ihr fehle das Mitgefühl – und eine Begründung, warum andere Bezirke mit größeren sozialen Problemen die Therapie der Straftäter auch noch bewältigen sollten und eben nicht Weißensee. Die Frau wird ausgepfiffen.