Wieder und immer der Hunger

FIKTIONALISIERUNG Um die Monstrositäten des Lebens im Arbeitslager geht es in Herta Müllers neuem Roman „Atemschaukel“, der sich an der Biografie des Dichters Oskar Pastior orientiert

Das ist, bei allem Respekt vor der Kunst Herta Müllers, blanker Entbehrungskitsch

Ich weiß, du kommst wieder“, sagt die Großmutter noch im Hausflur zum siebzehnjährigen Leopold Auberg, bevor er abgeholt wird. Der Satz wird ihn begleiten. Es ist der 15. Januar 1945. Auberg ist ein Siebenbürger Sachse aus Hermannstadt; Rumänien hat dem zuvor noch verbündeten Deutschland den Krieg erklärt; nun treiben die Russen für den sogenannten Wiederaufbau Arbeiter zusammen, Männer und Frauen. Auberg wird ins Lager deportiert. Fünf Jahre seines Lebens wird er dort zubringen. So erzählt es Herta Müller in ihrem Roman „Atemschaukel“.

Herta Müller hat, wie sie im Nachwort schreibt, viele Gespräche mit Deportierten geführt. Ihre Mutter war fünf Jahre im Arbeitslager, hauptsächlich jedoch stützt sie sich auf die Erinnerungen des 2006 verstorbenen Büchnerpreisträgers Oskar Pastior, dessen biografische Daten den Rahmen für die fiktive Figur Leopold Auberg geben.

„Atemschaukel“ sollte eigentlich ein Gemeinschaftsprojekt werden, das allein fortzuführen sich Herta Müller nach einigem Zögern entschloss. Als „Roman“ muss sich das Buch also nicht allein an den Kriterien des Dokumentarischen, sondern des Literarischen messen lassen. Und als literarisches Kunstwerk ist „Atemschaukel“, bei aller Eindringlichkeit einzelner Passagen, misslungen.

Herta Müller ist, das hat sie mit Romanen wie „Herztier“ und „Der Fuchs war damals schon der Jäger“ bewiesen, eine der sprachmächtigsten deutschsprachigen Autorinnen überhaupt. Doch wo dort ihre bildreiche, poetisch aufgeladene Sprache zu einer unmittelbaren Erfahrung psychischer und physischer Bedrängnis führte, wirkt sie in ihrem neuen Buch wie ein falsches Kleidungsstück, das jemand sich übergeworfen hat: „Wenn ich nichts zu kochen hatte, ging ich in die Nähe der Töpfe und tat so, als würde ich mir vorm Schlafengehen am Brunnen die Zähne putzen. Doch bevor ich die Zahnbürste in den Mund steckte, aß ich zweimal. Mit dem Augenhunger aß ich das gelbe Feuer und mit dem Gaumenhunger den Rauch.“ Das ist, bei allem Respekt vor dem Werk und der Kunst Herta Müllers, blanker Entbehrungskitsch.

Härte gegen sich selbst

Immer dann, wenn die Sprache sich zurücknimmt, wenn mit erschreckender Selbstverständlichkeit und Lakonie von den Monstrositäten des Lagerlebens und -alltags erzählt wird, ist „Atemschaukel“ ein starkes Buch: Der Hunger, die Läuse, der Hunger, die Toten, deren Kleider man sich rechtzeitig sichern muss, um selbst zu überleben, dann wieder und immer der Hunger. Das Lager ist vor allem eine Erziehungsanstalt zur Härte gegen sich selbst. Nicht mehr langsam und nicht mehr mit Genuss könne er essen, so schreibt Auberg 60 Jahre später. Normalität ist unmöglich geworden. Der 22 Jahre alte Auberg kehrt aus Russland nicht nur in eine ihm fremde Familie zurück; auch das Selbstverhältnis ist gebrochen: „Nichts ging mich was an. Ich war eingesperrt in mich und aus mir herausgeworfen, ich gehörte nicht ihnen und fehlte mir.“

Die Dinge, die Gegenstände, die Daseinszustände bekommen ein poetisiertes Eigenleben: Die „Atemschaukel“ (ein Delirium), der „Hungerengel“ (der allgegenwärtig ist und über Leben und Sterben wacht), das „Meldekraut“, das auf den Schutthalden rund um das Lager wächst und als Salatersatz dient – die gesamte Motivebene ist kunstvoll choreografiert und wirkt doch deutlich überinstrumentiert.

Zuweilen suhlt sich „Atemschaukel“ in einer Ästhetik des Schreckens und Erschreckens, die überdröhnt, dass hier in einem Einzelnen, wie es einmal heißt, der Schrecken erwachsen wurde. Man wird, das bringt das Thema mit sich und ist zu erwarten angesichts des Raunens, das den Roman der Autorin schon vor seinem Erscheinen begleitete, dennoch von großer Literatur sprechen. CHRISTOPH SCHRÖDER

■ Herta Müller: „Atemschaukel“. Roman, Carl Hanser Verlag, München 2009, 302 Seiten, 19,90 Euro